Mende, 16.Juli 2010, 12.Etappe: Bourg-de-Péage - Mende, 210,5km
Pssst!
Leute ist das herrlich! Ich sitze im Milram-Teambus, den sie unbeaufsichtigt vorm Hotel abgestellt haben und genieße das Eisbad. Nein, das ist kein Quark: Im hinteren Teil des Busses, in dem bei Radioshack Lance Armstrongs exklusives Wohnzimmer ist, ist bei Milram ein kleiner Raum mit einem Eisbad, da kann man am Rand sitzen und die müden Beine (und damit auch den Schmerz) einfrieren. Eigentlich warte ich aber auf meinen Termin beim Teamchef, es geht um einen Profivertrag. Der van Gerwen war ja heute gar nicht zufrieden mit seinen Radlern. Es geht um einen neuen Sponsor und die Jungs kriegen es nicht hin, sich mal in der Kamera zu zeigen. Dass man auch einfach mal mit sieben Leuten abwechselnd eine Attacke mitfahren kann, daran hat keiner gedacht. Naja, aber es ist immerhin gut für mich. Mal gucken, was die Verhandlungen gleich bringen. Vielleicht ersetze ich schon auf der morgigen Etappe den Linusmann.
Ich habe alle Trümpfe in der Hand, mein 89. Platz auf der Etappe rund um den Col de la Madeleine kann Gold wert sein.
Ich möchte gar nicht zu viel erzählen von meiner heutigen Etappe, denn es war die Planungsetappe für morgen. Ich habe ja noch was vor und daher im Feld heute mal … was ausgelotet.
Deshalb machen wir weiter mit dem Vokabel-Intervalltraining aus der Konserve. Hier der Rest von den französischen Radsportvokabeln, wie ich sie bisher im Feld erforscht habe. Geht los:
[i]Von Tänzerinnen, kleinen Königinnen und dem Mann mit dem Hammer: Die französische Radsportsprache
Wo an einem 30°C heißen Tag auf einer Etappe in den Pyrenäen 170 Fahrer, das „peloton“, permanent zwischen Übersäuerung der Muskeln, Hyperventilierung und 13% Steigung unterwegs ist, bleibt keine Luft für ausgefeilte Konversationen, so ist die Sprache kurz, knapp, klar und unterhaltsam.
„Peloton“ ist ein alter millitärischer Ausdruck und bezeichnet eine Schlachteinheit. Das widerum geht zurück auf den lateinischen Begriff für ein Knäuel. Was könnte da besser passen!
Die Pyrenäen also, dieses Jahr der Höhepunkt der Großen Schleife, „le grand boucle“: Gleich zweimal steht der Tourmalet auf dem Plan. Hier wird die Tour, auf Französisch le tour, entschieden. Die schweren sprinteurs hassen Berge. Nur die grimpeur poids-plume, die Bergflöhe, fühlen sich pudelwohl. Doch wenn die bergauf mitlaufenden Fans schneller sind als die Fahrer und die bulligen Kraftfahrer (das hat mit LKWs nichts zu tun!) eher rückwärts fahren als vorwärts, dann fahren viele nur noch mit den Ohren. Die Deutschen rollen auf dem Zahnfleisch, die Franzosen steuern ihr Rad „avec les oreilles“. Sollte es dann zu einem Hungerast kommen, droht der ultimative Einbruch. Ein deutscher Hungerast klingt dramatisch, in Frankreich, dem Land der gefühlten 300.000 Käsesorten, an denen man in drei Wochen vorbei kommt, verspürt man hingegen beinahe nur einen leichten Appetit. Eine „fringale“. Kohldampf.
Doch diese Verniedlichung hilft nicht darüber hinweg, dass dieser Fahrer dann erledigt ist. Écrasé. Fichu. Seine letzte Rettung ist dann nur der autobus. Er winkt den Teamwagen heran, steigt vom Rad und lässt sich ins Hotel fahren und dann auf und davon, den Rücken voll von der Tour („J’en ai plein le dos!“ = die Nase voll haben)? Nein, der autobus ist das bequeme Grupetto. Eine Gruppe von Fahrern, die es sich am Ende des Feldes bequem macht und im Kollektiv versucht, noch innerhalb des Zeitlimits ins Ziel zu kommen. Ums Gesamtklassement geht es dann nicht mehr. Doch Achtung! Hinter dem autobus lauert schon die „voiture-balai“, der Besenwagen, der das Zeitlimit greifbar macht. Wer hinter dem Besenwagen ins Ziel kommt, ist wirklich écrasé. Der kann nach Hause fahren. Mi dem Auto natürlich. Oder er nimmt das Flugzeug.
Doch wenn er selber das Flugzeug macht („faire l’avion“), dann fährt er in der Regel weit entfernt vom Grupetto. Dann dominiert er das Feld und wird ziemlich sicher gewinnen. Wenn er dann die flamme rouge sieht, die zwischen einer dieser aufblasbaren Gummibögen den letzten Kilometer markiert, kann er die Beine hochnehmen und seinen Sieg genießen. Und diejenigen verspotten, die die lanterne rouge tragen: Sie sind die letzten.
Doch wer spotten kann, hat es zuerecht nicht leicht. Nicht nur die Moral fehlt, sondern muss er Überflieger sich auch unbequeme Fragen gefallen lassen. Ob er wirklich nur mit „eau claire“ gefahren ist? Im besten Fall weiß der Sieger wirklich nur mit dem mediterranen EPO etwas anzufangen: Eau, Pastis, Olive.
Außerdem haben ausgewählte Fahrer nach der Zielfahrt permanent eine Anstandsdame an ihrer Seite, die sie zur Dopingkontrolle begleitet. Dieser Anstandswauwau heißt „chaperon“ und ist eigentlich auch männlich. Aber wozu ein neues Wort erfinden, wenn es schon eines gibt, das so gut passt wie dieses?
Am liebsten betrachten die Franzosen solche Typen, die zu arbeiten wissen. Die ackern für ihren Kapitän und sich dann irgendwann selber ganz unverhofft vom Acker machen. Das sind die Baroudeure, notorische Ausreißer, die sich einen Spaß daraus machen, das Feld an der Nase herumzuführen, die stundenlang treten um vielleicht eine dreiprozentige Gewinnchance zu haben. Das hat Moral, diese Typen, c’est du costaud! Da muss man schon robust sein, kräftig und clever. Einige schießen sofort nach dem Start drauf los, sodass es heißt „il fait le départ“. Manchmal macht er auch das Motorrad, „il fait le motard!“ und lässt die anderen stehen, sodass sie nur noch „roulent comme un facteur“, wie ein Briefträger. Ausreißer sind manchmal gehasst, wenn sie das Feld durch ihr Tempo aus der Bequemlichkeit reißen, quand ils „en roulent une dégueulasse“. Die Ekeltreter sind unterwegs!
Kommt ein Ausreißer druch, ist er für zwei Minuten der Held, wenn er alleine vor dem Feld herfährt und als erster die Ziellinie überquert. Die, die sonst nur Wasserträger sind, die porteurs d’eau. Große Typen, die in den Bergen rückwärtsrollen, nicht kompakt genug sind für einen Sprint, dafür aber ein großes Herz haben und ein Trikot in XXL, mit Platz für fünfzehn Flaschen Wasser für den Kapitän.
Frankreich hat zwei Hochgebirge, neben den Pyrenäen natürlich auch noch die Alpen. Und die Pässe (= les cols (m.)) sind auch dort legendär. Die dreizehn Schleifen auf dem Weg nach Alpe d’Huez. Knallt dann noch die Sonne oder ist der Fahrer in Pflaster verpackt, weil er sich im Laufe der drei Wochen öfter mal „hingelegt“ hat (= se coucher), dann trifft er ganz schnell auf den Mann mit dem Hammer, l’homme avec le marteau. Dann geht wieder nichts mehr und die kaum 7kg schweren Renner fühlen sich an wie Schwertransporter. Da verübelen es einem die anderen nicht, wenn man im Grupetto hinter den anderen herfährt und sich gegenseitig etwas Windschatten spendet. Kein Pardon kennen die Kollegen aber bei den Lutschern, les cyclistes qui „sucent les roues“! Das sind die, die in einer Ausreißergruppe permanent hinter den anderen herfahren und sich nicht an der Führungsarbeit beteiligen, womöglich aber dann doch kurz vor Schluss zur Attacke zu blasen. Das hat mit Fairness nichts zu tun und den Respekt der anderen hat er dann die längste Zeit genossen.
Der größte Moment in der Karriere eines Radsportlers sind die letzten Runden auf den Champs Elysées in Paris, wenn er das amillot jaune auf den Schultern trägt und ein Glas Champagner in der Hand. Seine Teamkameraden fument une pipe, gönnen sich eine sprichwörtliche Pfeife, denn Angriffe braucht der Sieger auf der letzten Etappe nicht mehr zu fürchten. Es gibt also doch Moral im Radsport. Würde Fußballmannschaft etwa aus Respekt vor dem Team, das mit 2:1 führt, das Fußballspielen einstellen, hein?[/i]