Ich verstehe hier nur noch Bahnhof. Und weil norddeutscher Rum nicht OT ist, moniere ich das mal nicht.
Ist doch eindeutig. Aufgrund des skandalösen Kolobnev-Fall bin ich aus der Übertragung ausgestiegen und sende ab jetzt eine Telenovela.
Anders als so manches anderes Medium aber würde ich selbstverständlich auf mein Publikum hören, wenn es sich die Tour-Berichterstattung zurückwünscht.
Kein Grund zu schmollen im Fahrerfeld. Wer hat hier von Skandal gesprochen? Die Zeiten wo Doping ein Skandal war sind längst vorbei, auch auf BF!
Ein Positivbefund beweist doch nur, dass alles mit rechten Dingen zugeht.
Wir sind doch hier nicht bei den Öffentlich-Rechtlichen, die sich auch für das Geld der No-sports-Fans unter den Zuschauern veranworten müssen
Also ich für meinen Teil würde liebend gerne auf die Telenovela verzichten und wieder den Tour-Bericht lesen.
Guck mal, ich schiebe dir sogar extra unser berüchtigtes BF-Dopingmittel rüber.
Schon überzeugt, heute steige ich wieder ein.
puh
Und hier das, was ich am Ruhetag ausfallen lassen musste (und gestern war sowieso Klausurtag).
Montag, 11. Juli, 1. Ruhetag, Auvergne
Picknick! Heute am Ruhetag was für die Lesenden unter den Erdenbürgern und Radfahrern. Sechs Bücher habe ich aus meiner schnieken Reisebibliothek rausgesucht und mit einer kurzen (Berg-?Sprint-?)Wertung versehen. Wir beginnen mit den autobiografischen Werken und arbeiten uns dann etappenweise mehr in die Fiktion vor. Also wie auf einer normalen Bergetappe, die in einer Halluzination endet.
Die Biografien
Laurent Fignon: Nous étions jeunes et insouciants, 2009
Vor knapp einem Jahr starb einer, der zwei Touren gewann, aber meist auf einmal verlorene acht Sekunden angesprochen wird. Laurent Fignon beginnt sein Buch mit jenen acht Sekunden, minutiös zeichnet er die Tour de France 1989 nach, seine letzte Chance auf einen dritten Sieg, bis hin zum entscheidenden Zeitfahren in Paris. Es sollte das beste seiner Karriere werden und er fuhr in Gelb. Und dann kam Greg Lemond und gewann das Zeitfahren dank eines Triathlon-Lenkers und Fignon hatte die Tour verloren. Mit acht Sekunden Rückstand. Erst nachdem er dieses Kapitel abgearbeitet hat, beginnt er mit der Aufarbeitung seiner Radfahrerkindheit und -jugend, analysiert alles detailreich und mit einem kritischen Blick. Er versucht sich selber seine Leichtigkeit zu erklären, mit der er radfahren und gewinnen könnte. Mit Jugend und Sorglosigkeit, wie der Titel sagt. Genau das fängt er immer wieder in Sätzen ein und betrachtet sich selber dabei wie ein Außenstehender, was das Buch gut macht. Stilistisch exzellent (Journalistische Hilfe von Jean-Emmanuel Ducoin) nimmt er den Leser mit auf eine bewegende Reise in das Herz des Radsports. Nach der Lektüre weiß man alles über den Sport, was man wissen muss, um ihn zu mögen oder zu verstehen, mit allen Höhen und Tiefen, die Fignon nicht ausspart. Der Unterschied zu einer Berichterstattung in den Medien oder zu puren Erklärungen aber ist, dass er sie verständlich und nachvollziehbar macht. Auch ohne mehr über Fignon zu wissen, wird in diesem Buch auf authentische Weise deutlich, wer er war; ein unbequemer aber junger und zeitweise innovativer Geist (der unter anderem das Sponsorensystem erfunden hat, bei dem die Teams sich selber gehören und nicht mehr den Unternehmen, dessen Namen sie tragen). Aus der Distanz von Jahren, aber noch bisweilen mit ein wenig Bitterkeit (findet, die Tour braucht keine Zeitfahren. Wie er darauf wohl kam? ) schildert er Freundschaften und vor allem Rivalitäten, etwa mit seinem Entdecker und Förderer Cyril Guimard und mit Greg Lemond. Allerdings bleibt bei so einer Selbstbetrachtung nicht aus, dass Fignon manchmal ein bisschen großspurig wirkt. Das Buch schließt mit einer Betrachtung der aktuellen Situation des Sports, die ich sehr interessant und nachvollziehbar finde. Ansichten eines Champions: Bewegend, leicht lesbar aber stilistisch gut, und vor allem umfassend. Ein herausragendes Lebensporträt.
Bewertung: *****
Jens Voigt: Man muss kämpfen!, 2007
Eine Erklärung vorweg, die eigentlich schon das meiste erklärt: Jens Voigt steht zwar als Autor auf dem Cover, aber das Konzept des Verlages bei solchen Zwischenbilanzenbüchern oder Autobiografien ist es, Gespräche aufzuzeichnen und zu verschriftlichen. Das hat massive Konsquenzen für die Qualität der Bücher, denn sie lesen genau so, als Gesprächsprotokolle, die insgesamt kurz und ungeordnet sind. Das ist extrem schade, denn Jens Voigt ist einer, der viel zu sagen hat und auch gerne redet, und der zudem sehr intelligent ist und in Blogs und Interviews mehrfach bewiesen hat, dass er eigentlich auch gut schreiben würde. « Man muss kämpfen - Nicht aufgeben - Siegen lernen » stellt so nur einen ganz kleinen Ausschnitt von dem dar, wer Voigt ist und was ihn ausmacht. So bleibt es ein Protokoll seiner bisherigen Karriere, ohne große Tiefe, aber auf das Wichtige, Essentielle reduziert, so dass es leicht lesbar und geradeheraus ist. Gut gelungen sind unter anderem die kurzen Kapitel über Voigts Weggefährten, darunter Chris Boardman, Bobby Julich und Thor Hushovd, die er mit erstaunlicher Präzision in knappen Worten sehr poinitiert darstellen kann. Boardman, die Rechenmaschine unter den Profis: « Er hat ständig irgendetwas ausgerechnet: Übersetzungen, Trittfrequenzen, Watt, Kalorien. Ein Blick auf den Teller und Chris konnte sagen: ‹ Das sind ungefähr 735 Kalorien ›. » Wenn man das Buch heute liest, kann man hierrüber schmunzeln: « Als Chris mir verriet, dass er vier Kinder habe, sagte ich ihm, er sei verrückt. Er lachte nur und antwortete: ‹ Warte mal ab, bis du an der Reihe bist. › Inzwischen habe ich selbst vier Kinder, und er sechs. Das muss man sich mal vorstellen. Zuletzt hat er mir vergnügt erzählt, er habe wegen der Kinder ein großes Haus gekauft und sei jetzt bankrott. » Voigt hat mittlerweile selber ein halbes Dutzend Nachkömmlinge und ist dabei, sein Berliner Haus mit einem Anbau zu versehen. Es klingt seltsam, aber in erster Linie ist dieses Buch eine Autobiografie, die kaum von dem Autor selber handelt, sondern immer von denen, die ihn begleitet haben - Eltern, Geschwister, Freunde, Teamkollegen, seine eigene Familie. Die, die ihn stark gemacht haben. Ein Teamplayer, der sich an Lebensweisheiten hält wie an Gesetze, einer, von dem manche sagen, er habe den Sportsgeist erfunden. Soweit würde ich jetzt nicht gehen, aber es ist nachvollziehbar. Das Reden über sich überlässt er lieber anderen; Bjarne Riis steuert ein gutes Vorwort bei: « (…) Er ist bestenfalls kurzzeitig zu bremsen. Siegeswille und Sportsgeist, Energie im Überfluss, Tatendurst, Furchtlosigkeit und Ehrlichkeit sind einige der Eigenschaften, die ich mit Jens verbinde. Er ist akzeptiert und beliebt im Team. Er scheut nicht davor zurück, die Führung und Verantwortung zu übernehmen, sowohl für sich selbst als auch für die Mannschaft. Er ist immer ein Vorbild. (…) Jens, du bist ein Traum für jeden Sportlichen Leiter, und ich hoffe, dass du dem Rennfahrerfeld noch eine Weile erhalten bleibst. Der Radsport braucht dich. »
Der Stil des Buches, mit der heißen Nadel gestrickt, ist nicht gut, Voigt hätte andere Ansprüche an sein Buch haben sollen. Für ihn als Person müsste die Wertung eine andere sein, aber für das Buch gibt es nur
Bewertung: ***
13. Juli, 11. Etappe: Blaye-les-Mines - Lavaur 167,5km
Zwei Klötze an den Beinen und es sind nicht Markus und Simón
Heute geht es mal um den Ablauf eines ganz gewöhnlichen Tourtages bis zum Start. Quasi von der Wiege bis zur Bahre.
Man schläft so bis acht Uhr. Unser Frühauftsteher Markus hält es spätestens dann nicht mehr aus und hämmert an unsere Türen. Wenn dann das Holz splittert, wird man meistens wach. Duschen, Zähne putzen, Koffer packen (Deckel auf, Sachen reinschmeißen, Deckel zu, draufsetzen, Klappen zumachen, überstehende Ärmel und Zipfel abschneiden) und dann ab in die Hölle. Also an das Frühstücksbüffet. Frühstück ist die Mahlzeit, auf die ich am ehesten verzichten könnte und erst recht, wenn man bei der Tour schaufeln muss wie ein Scheunendrescher. Noch dazu bin ich morgens nicht der bestgelaunteste Mensch auf Erden, weiß Gott nicht. Diese Position haben Markus und Simón inne. Das macht das Frühstück noch schlimmer. Nicht nur, dass unser Bankkaufmann sich zu Kalauern wie « Wenn ich Armstrong heißen würde und einen Sohn hätte, würde ich ihn Niels nennen » hinreißen lässt, es wird auch noch gesungen, in Erinnerung an unsere bisherige Tour. Die ganzen alten Schlager, die unseren Weg bis hierher untermalt haben. Von « Flens will be Flens » (Queen) in der Vendée bis zu « Ne regarde pas derrière toi sous l’empire de la colère » (Oasis) in Erinnerung an Simóns Stunt an der Loire, als der Contador ihn angequatscht hat und er (Sim) im Graben landete. Bei so einem Frühstück könnte man schonmal auf die Idee kommen, sein Frühstücksmesser zu zweckentfremden. Das wäre mir aber zu stumpf.
Das Messer.
Nach dem Frühstück kommt Marisol von ihrem Pflegertisch zum Fahrertisch, breitet ihre gute alte Michelin-Karte aus, hält uns das Höhenprofil unter die Nase und wir diskutieren. Das Ergebnis nach drei isotonischen Orangensäften ist immer ziemlich das gleiche: Im Feld bleiben, aufpassen und ordentlich treten.
Danach schnipst Markus unsere Koffer ins Auto, wir schnallen unsere Räder auf dem Dachgepäckträger fest, verstauen mein Dixieklo im Kofferraum und dann geht es los. Das ist unser Teambus, Simóns Mercedes. Das wollte uns die französische Polizei erst nicht glauben, als sie am Ruhetag eine Razzia durchführten. Das machen sie bei der Tour routinemäßig. « Entschuldigung, das ist unser Tourbus! », konnten wir nur immer wieder hervorbringen und begannen freiwillig die Stauräume auszubaggern. Vorne links bei Marisol die Gummibärchen, die Trinkflaschen in der Mittelkonsole, vorne rechts bei Markus die Baguettekrümel und hinten rechts meine Drahtmännchensammlung. Anschließend schlitzten wir noch bereitwillig die Polster auf. Nichts, wir fanden zum Glück keine versteckten Dopingmittel. Man ließ uns ziehen.
Zurück zum Tagesablauf: Wenn wir vom Hotel oder Campingplatz zum Ort des Etappenstarts angekommen sind, heißt es nur noch warten, sich einschreiben und immer fest die große Uhr im Blick zu haben. Ich muss nicht erwähnen, dass zwei Drittel meines Teams sich schon des öfteren an Jahrmarktangeboten im Village festgesaugt hatten und den Etappenstart verpennten. Gut, dass die Kamera so früh nie drauf ist. Das passiert aber auch anderen, muss man an dieser Stelle noch sagen! Namen werden wie immer nicht genannt. Heute konnte es mein Team aber nicht erwarten endlich loszufahren, weg vom Regen. Hinein in die Sintflut. Vom Regen in die Traufe. Das ist Südfrankreich im Jahr 2011, der Klimawandel schreitet voran. Ich erinnere mich an kein Mal in den vergangenen Tourjahren, dass man hier in der Gegend rund um Toulouse mal keinen Regen hatte. 2008, 2010, 2011. Das einzige was strahlte waren heute die Sonnenblumen und die schöne Landschaft. Ein Traum für Mähdrescherfans wie Simón und Schlösser überall. Es wimmelt von Schlössern!
Zu holen gab es für uns natürlich auch heute nichts und uns schlotterten die Knie nicht nur vor den Pyrenäen morgen, sondern auch vor der regnerischen Kälte. « Il pleut comme une vache qui pisse », sagt der Franzose für das, was sich am Zielort ereignet hat. Bei uns zu Hause sagt man immerhin noch « Es schifft », die hochsprachliche Variante ist « Es gießt wie aus Eimern. » Das Wetter produzierte wieder einmal allerhand Pfützen für Simón. Man hätte wetten können, dass er sich vor Freude in eine reinlegt, war heute aber mal nicht so. « Nachher angeln, Markus? » fragte er stattdessen gutgelaunt, während der Regen immer höhere Fontänen an unseren Hinterrädern produzierte. Halbzeit bei der Tour und Simón, der Aquaplaningspezialist, lernt langsam, im Regen Rad zu fahren.
Immerhin kann einen der derzeitige Sprinterkrieg kurzweilig unterhalten. Cavendish gegen Greipel. Isle of Man gegen Rostock. Großspurigkeit gegen Stilles Wasser. Eine pummelige Gazelle gegen einen Bären. Im vergangen Jahr noch mobbte Cavendish Greipel aus seinem Team und spottete über den Mann, der weltweit die meisten Saisonsiege gefeiert hatte: « If I wanted to get shit small wins, I’d race shit small races. » Cavendishs Pech, dass der Deutsche das Team gewechselt hat, jetzt gegen ihn antritt und eine « shit small » Etappe der Tour de France gewinnt. Der Brite gibt sich via Twitter versöhnlich und scheint seinem Widersacher den Sieg plötzlich zu gönnen. Die Welt sieht darin eine faire Geste, aber in Wahrheit gibt es nichts Verachtenderes als den Applaus des Unterlegenen: « Rufe. Applaus. Klatsche ich mit? Nein. Würde ich applaudieren, hieße das: Ach Reilhan, das war alles nicht so wichtig, das war nur zum Spaß. Ich würde sagen: Reilhan, du hast nur eine Teil von mir besiegt, und der Rest, was kümmert es den, der klatscht für dich. Aber Reilhan hat mich komplett besiegt.
Wer dem, der ihn besiegt hat, zujubelt, leugnet dies und würdigt ihn somit herab. Ein guter Verlierer sein zu können ist eine verachtenswerte Ausrede, eine Beleidigung des Sportgeistes. Wer ein guter Verlierer sein kann, sollte vom Sport ausgeschlossen werden. » (Tim Krabbé, Das Rennen, S.157f.)
Heute war es dann wieder wie gewohnt. Wir fahren 160 Kilometer durch Frankreich und am Ende gewinnt Cavendish, die Ordnung ist wieder hergestellt. Aber eines muss man noch zu André Greipel (im öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch gerne mal Andreas Greipel, es handelt sich aber um ein und dieselbe Person) sagen: Boah, hat der Klötze am Bein! Die Kamele unter den Menschen speichern in solchen Höckern Fett, aber er speichert einfach nur Muskeln. Sensationell.
Und zum Schluss noch:
Dinge, die wir nie von oder über xy hören oder sehen wollten:
Heute: George Hincapie (BMC). twitpic.com/5njbxr
Der Beweis, dass manche Rennfahrer ihr Hirn in den Beinen haben. Ich hatte gehofft, nie den Beweis sehen zu müssen.
Classement de l’étape
- CAVENDISH Mark 171 HTC - HIGHROAD 3h 46’ 07"
- GREIPEL André 33 OMEGA PHARMA - LOTTO 3h 46’ 07" + 00’ 00"
- FARRAR Tyler 54 TEAM GARMIN - CERVELO 3h 46’ 07" + 00’ 00"
- GALIMZYANOV Denis 193 KATUSHA TEAM 3h 46’ 07" + 00’ 00"
- HAGEN Edvald Boasson 114 SKY PROCYCLING 3h 46’ 07" + 00’ 00"
… - SELM Simón 232 EQUIPE AVONLEA 3h 46’ 07" + 00’ 00"
… - BECKER Markus 232 EQUIPE AVONLEA 3h 46’ 07" + 00’ 00"
… - AVONLEA 231 EQUIPE AVONLEA 3h 51’ 50" + 05’ 43"
ich sehe bist ein allroundtalent,nicht übel die telenova
…aber ich bin auch eher für die tour
nicht aufgeben
…lass die Beine sprechen
spätestens jetzt Avonlea, würde ich ein paarTage Pause einlegen
jetzt weiss ich wieder, was mir die ganze zeit gefehlt hat…danke a-lea, für diese wundervolle tourberichterstattung!
Herrlich diese Berichte… aber die Wade, mein Gott…
Vielen Dank für eure Anfeuerung und die virtuellen Spruchbänder entlang der Strecke!
12.Etappe, Cugnaux - Luz-Ardiden, 211km
hors délais: BECKER Markus EQUIPE AVONLEA 7h 24’ 20" + 1h 20’ 05"
Jetzt ist es passiert. Die Fast-Katastrophe. Aber man hat das kommen sehen, so ist das ja nicht. Wir wussten es eigentlich schon, als wir Markus ins Team nahmen. Wir wussten, dass er Trikotgröße XXL hat. Dass alles an ihm muskulös ist. Ich habe noch nie so muskulöse Arme, Beine, Finger gesehen wie seine. Nase, Ohren Stirn - alles voll mit Muskeln. Und die Augen! Was für Bizeps der da hat, mein lieber Herr Gesangsverein. Der perfekte Bodyguard für turbulente Tourmomente und vor allem der perfekte Iso-Drink-Träger. 15-20 Flaschen kann der schon mitschleppen. Das reicht dann meist für die Etappe. Auch bergab ist er ein Gott auf dem Fahrrad und abseits der Strecke sowieso. Aber es gibt dann doch das große ABER.
Wir wussten es heute morgen, als er beim Frühstück ganz still war. Die Berge erfordern ganze Konzentration und das fängt schon am Morgen an. Aber dass Markus Stille keine Konzentration war, erkannten wir an den nach Größe sortierten Cornflakes auf seinem Teller. An den mühsam gestapelten Erbsen. Und an Zahnstocherlöchern im Blümchenmuster im ungeöffneten Jogurtdeckel.
„Was ist los, Markus?“
„Ich weiß nicht. Ich fühle mich so schwer… schwermütig und schwer. Und ich bin schwer.“
„Aber das macht doch nichts. Das ist die heutige Etappe auch.“
„Es ist die existenzielle Schwere des Seins, die ich verkörpere. Ich kann so nicht weitermachen. Diese Berge sind mehr als nur Steine auf meinem Weg. Es sind Berge. Ich will nicht mehr weiter, ich steige aus.“
Auf diesen Satz hatte ich gewartet. Innerhalb von zwei Sekunden hatte ich aus meiner Hosentasche ein Stück Papier gezückt und aus der Obstschale auf dem Tisch eine Banane entwendet.
„Markus, ich tue das hier nur ungern. Ich muss dich daran erinnern, dass du diesen Vertrag hier unterschrieben hast. Es wäre doch schade, wenn deinen hübschen Schläfen etwas zustoßen würde, oder?“
„Schon überzeugt. Wir können los.“
Die ersten 119km war alles super, das Wetter war schön, die Ausreißer weg und wir waren auch hin und weg von der Schönheit der Pyrenäen. Das ist doch was anderes als Hooge. Und jetzt zählt es. Für mich als Classement-Fahrerin und für meine beiden Helfer. Der Hourquette d’Ancizan war ein Schlag ins Genick. Im ersten Teil ging es geschätze 60% bergauf, das zehrt an den Nackenmuskeln und belastet das Hinterrad ungemein, immer kurz vor der Rolle rückwärts. Tim Krabbé spricht beim Bergfahren von „Gedanken, die rückwärts aus dem Kopf rollen.“ Der Satz hätte auch von unserem Pfilosophen Markus kommen können. Nur dass er heute schneller als seine Gedanken rückwärts gerollt ist. Wir mussten ihn ziehen lassen, er war unaufhaltsam.
Simón zog mich danach allein dern Berg hoch. Auf rein legale Weise natürlich, ich habe es nicht nötig, mich liften zu lassen. Dank Simóns aufopfernder Unterstützung kam ich im Edel-Grupetto ins Ziel und konnte duschen, essen und eine Runde schlafen, bevor wir Markus in Luz Ardiden in Empfang nehmen konnten. Statt komplett am Boden zerstört zu sein, war er ganz aufgeregt und vor allem stinksauer. „Die wollen mich aus der Wertung nehmen, die Armleuchter!“
„Oh, Markus, das tut mir leid“, sagte ich, aber nicht ernsthaft überrascht. Eher überrascht darüber, dass Markus davon überrascht war.
„Ich war aber vor dem Besenwagen hier oben! Ich schwöre Stein auf Bein, ich war vor dem beknackten Besenwagen hier!“
Wenn das stimmte, war das eine Chefangelegenheit. Zehn Minuten später standen wir bei C. Prudhomme auf der Matte und versichterten ihm glaubhaft, dass der Besenwagen ganz offenbar versagt hatte mit dem Wischen und selber das Zeitlimit verpasst hatte. Als der das dann bemerkt hatte und Stoff gab, kam es zum Schlagabtausch zwischen unserem King Kong und dem verhinderten Michael Schumacher. Markus berichtet, kurz vor der Ziellinie hat er den noch eingeholt, die Ohren angeklappt, die Mundwinkel flatternd. Ein Sprint-Fotofinish.
„Das war nicht unser Besenwagen, das war die Straßenreinigung. Sie sind ausgeschieden, Herr Becker. HORS DELAI und Schluss.“
„Auf gar keinen Fall!“, kam es einstimmig von uns zurück. Wir haben alles getan, um Markus zu retten. Alles.
Zwei Minuten später stand er wieder im Classement. Ein zufälliger Zeuge konnte bestätigen, dass Markus als Letzter direkt hinter dem Feld ins Ziel gekommen war und nach einer technischen Überprüfung stellte sich heraus, dass sein Zeitmessgerät defekt gewesen war. Sorti de la merde!
Und was machen wir morgen?
Gewonnen hat heute Olympiasieger Samuel Sanchez (Euskaltel), der schnellste Abfahrer der Welt. Contador (Saxobank) hingegen hat wieder ein paar wertvolle Sekunden Verlust gegenüber den Schlecks (Leopard) zu verbuchen. Voeckler (Europcar) hingegen verbucht einen weiteren Tag in Gelb und erklomm auch am Nationalfeiertag wieder das gelbe Podium.Die Equipe Avonlea freut sich für ihn. Ein toller Repräsentant dieses Sports, ein Fahrer mit Herz und Klasse.
[size=150]Dinge, die wir nie von oder über xy hören oder sehen wollten:[/size]
Folge 3: Mark Cavendish auf Twitter:
Classement de l’étape
- SANCHEZ Samuel 21 EUSKALTEL - EUSKADI 6h 01’ 15"
- VANENDERT Jelle 38 OMEGA PHARMA - LOTTO 6h 01’ 22" + 00’ 07"
- SCHLECK Frank 18 TEAM LEOPARD-TREK 6h 01’ 25" + 00’ 10"
- BASSO Ivan 91 LIQUIGAS-CANNONDALE 6h 01’ 45" + 00’ 30"
- EVANS Cadel 141 BMC RACING TEAM 6h 01’ 45" + 00’ 30"
- SCHLECK Andy 11 TEAM LEOPARD-TREK 6h 01’ 45" + 00’ 30"
… - AVONLEA 231 EQUIPE AVONLEA 6h 34’ 20" + 33’ 05"
- SELM Simón 233 EQUIPE AVONLEA 6h 34’ 20" + 33’ 05"
… - BECKER Markus 232 EQUIPE AVONLEA 6h 34’ 20" + 33’ 05"
Bei Kamelrennen ist die normale Haushaltszwiebel als Dopingmittel ja verboten.Schummeln mit Schubraketen und Triebmittel ist nicht zugelassen.Der Treibstoff entspricht nicht der Abgasnorm,aber
wegen ihres hohen Energiewertes, der wenigen Kalorien und des gut verwertbaren Zuckers gilt sie manchen Hochleistungssportlern sogar als « gesundes Doping » und steht nicht auf der" roten Liste".Da werden die Berge nicht mehr zu Steinen, die im Weg liegen.Du solltest allerdings das Hinterrad von Marcus dann meiden
Das ist nicht schwer bei seinem Tempo
Heute kommen die Rezensionen, die ich an Markus und Simón delegiert habe. Markus hat sich einen Sammelband geschnappt (bzw. von mir aufgedrängt bekommen) und Simón hatte während der Tour einen Roman auf seinem Nachttisch.
Sammelband
Bettina Feldweg (Hg.). Die besten Rad-Geschichten, 2003
Ein schöner, 300 Seiten starker Einband, der in zwei Teile gegliedert ist; „Fest im Sattel - Schnelle Sprints und ferne Ziele“ und „Aus Lust und Liebe - Genußradler [sic] und Hobbybiker“. Im ersten Teil bietet die Sammlerin faktuale Reiseberichte und Radsporterlebnisse an, unter anderem Ausschnitte aus Armstrongs Buch, aus dem von Jürgen Löhle (das von Zabel und Ullrich autorisiert wurde) und ein Radpilgerbericht von Bettina Selby. Teil 2 beinhaltet fiktionale Texte von namhaften Schriftstellern wie Heinrich Böll, Maarten T’Hart oder auch ein Ausschnitt aus dem Drehbuch zu „Das Leben ist schön“ von Roberto Benigni. Das ist auch der erste Kritikpunkt. Es ist ein guter Film und die Fahrradszenen, wo der Vater mit dem Sohn und der Mutter ins Dorf rauscht, sind ästhetisch und Zeichen von Lebensfreude, aber das in einem Fahrradbuch zu lesen ist etwas eigenartig und sehr gewollt.
Gut gemacht ist, dass das gesamte Bild vom Radfahren abgedeckt wird, alle Radarten, alle Situationen, alle Niveaus, vom Profi bis zum blutigen Amateur. Man hat so gute Chancen, sich in einer der Geschichten wiederzufinden. Praktisch ist die humorisitsche Anleitung „Wie stürze ich richtig“ über das Mountainbikefahren. Das, was die faktualen Texte nicht bieten können, bieten die fiktionalen, wo durch Stilmittel und einer ordentlichen Portion Überspitzung und Emotionalisierung Seiten des Radfahrens deutlich werden, die sich durch bloße Berichte nicht einfach erfassen lassen.
Mir hat das Buch gefallen, es gibt mal kürzere und mal längere Texte und der Held ist anders als in Romanen oder Berichten nicht der Radfahrer, sondern das Rad selber. Ergibt eine gute Mischung. (Markus)
Bewertung: ****
Romane
Ralph Hurne - Das Gelbe Trikot, 1973
Ein Buch von vor meiner Geburt. Das macht es schwer, Zugang zu damals zu finden, denn der dargestelle Sport ist alt. Schon vorm Lesen fragt man sich, was denn davon noch so ist wie heute. Außer Landschaft, Hitze und Schmerz eigentlich gar nichts, aber genau die Sachen sind sehr gut dargestellt. Die legendären Pässe und die Rennentwicklung sind ansprechend geschrieben. Taktik, Technik, Medizin und vor allem die Charaktere sind aber wirklich von gestern, bzw. aus den 70ern. Es geht um einen alternden Rennfahrer, Terence Davenport, der die Tour gewinnen will, bevor er seine Karriere an den Nagel hängt. Damals war das nicht so leicht wie heute, wo der Kapitän einfach von seiner Mannschaft in Watte gepackt wird und in die Berge getragen wird, damals mussten die sich selber um ihren Sieg kümmern und in Fluchtgruppen gehen. Beim Lesen von „Das Gelbe Trikot“ wird man aber das Gefühl nicht los, dass es schlicht ein Unterhaltungsroman für Männer ist. Vor allem dadurch, dass es im Großen und Ganzen eher um Frauen geht als ums Rennfahren. Fängt schon nach 7 Seiten an und setzt sich so fort. Der Ton insgesamt ist unterkühlt und entspricht so ziemlich dem Klischee eines 70er-Jahre-Sportlers, der nach dem Motto „Live fast, die young“ lebt, und nebenbei noch ein bisschen durch Frankreich fährt.
„Das Gelbe Trikot“ ist sicher ein Klassiker der Literatur zum Radsport, aber es bleibt ein Unterhaltungsroman für Männer, mit dünner Story und einer Tour de France mit ausgedachten Fahrern und einer unsympathischen Hauptperson. (Simón)
Bewertung: ***
Täuscht es oder haben die Verantwortlichen die Etappen wirklich entschärft, damit der Contador nicht jede achtlos am Straßenrand deponierte Frischhaltefolie schlucken muss. Erst 2 müde Etappen bis zu den Bergen gestern ein paar kleine Erhebungen und heut eine lange Anfahrt auf einen Berg und dann nicht mal Bergankunft sondern rasante Abfahrt ins Ziel.
Die haben es eben eilig, Cristo.13.Etappe Lourdes, rasante Wallfahrt, und sie möchten vielleicht das 19.Erscheinungsbild der Jungfrau Maria nicht verpassen…
Der ein oder andere wird sicher Heilung suchen.
Hoogerland
[size=75]Quelle: hersfelder-zeitung.de[/size]
Täuscht es oder haben die Verantwortlichen die Etappen wirklich entschärft, damit der Contador nicht jede achtlos am Straßenrand deponierte Frischhaltefolie schlucken muss. Erst 2 müde Etappen bis zu den Bergen gestern ein paar kleine Erhebungen und heut eine lange Anfahrt auf einen Berg und dann nicht mal Bergankunft sondern rasante Abfahrt ins Ziel.
Mich würde brennend interessieren, wie eine Tour ausgehen würde, die komplett flach ist. Nur Flachetappen. Ich glaube, dann wären das nicht nur Sprintetappen, sondern man würde plötzlich die Favoriten auf der Flucht sehen. Das wäre sicher spannender als Bergetappen. Wer braucht schon Berge? Die sind so überbewertet.
Mir gefällt das Konzept von Prudhomme, vor allem die erste Woche interessant zu machen und auf mittelschwerem Terrain Möglichkeiten zum Angriff zu bieten. Das fordert den Fahrern andere Fähigkeiten ab als nur Ausdauer und wenig Gewicht. Cadel Evans hat davon am meisten profitiert, während sich Contador einfach als Schnarchnase entpuppt hat.
15. Juli, 13. Etappe:Pau - Lourdes, 152,5km
Jesses Maria
Heute mache ich mal einen der Etappe angemessenen Bericht. Kurz.
Wetter am Start: Sonnig
Wetter am Aubisque: Von der einen Seite sonnig, von der anderen neblig
Wetter am Ziel: Die Strahlen der heiligen Jungfrau erleuchteten die Stadt
Unser Taktik-Gespräch beim Frühstück: Nach dem gestrigen Tag musste ich unbedingt mit Markus sprechen. « Markus, wir planen einen Kuh. Wenn du heute durchkommen willst, machst du den Eros Poli, fährst voraus solange du kannst, nur dass du dich dann am Aubisque vom Feld überholen lässt. Wenn du das packst, bist du im Limit im Ziel und sogar mehr. Deine Abfahrtsgeschwindigkeit müsste reichen um auf jeder Autobahn geblitzt zu werden. »
Das Rennen: Erst nach vierzig Kilometern bildete sich eine zehnköpfige Gruppe, mit dabei neben dem Weltmeister und späterem Etappensieger Hushovd: Ein diplomierter Maschinenbauingenieur, Jérémy Roy (FDJ), ein schmerzerprobter Purist von Radfahrer, der selbst auf Vitamininfusionen verzichtet, sagt man (D. Moncoutié, Cofidis), und ein Mann, der fast doppelt so groß ist wie Samuel Dumoulin, Markus Becker.
Die Strategie: ging fast auf. in Eaux-Bonnes am Fuße des Steins der Hors Catégorie haben wir ihn geschluckt. Ja, wir! Muss man so sagen. Und das haben wir einem einzigen Team zu verdanken. Sky fahren Jaguar-Teamwagen, Katusha und Leopard haben Mercedes, der Rest immerhin noch Skoda, Europcar hingegen kurvt mit Mietwagen durch die Gegend. Das sagt alles und zeugt von Bescheidenheit und Humanismus. So waren die grünen Männchen in der Mondlandschaft der Pyrenäen auch heute meine Helden. Immer langsam, aber nicht umkippen. Angenehmes Tempo, dankeschön. Ein Peloton auf dem Col d’Aubisque.
Unser Rennen: Morgen geht es ans Eingemachte, so dass ich heute Energie sparen, beziehungsweise zu mir nehmen musste. Und noch mehr: Es musste ein Entspannungstag sein, man musste aus dieser Bergetappe mit allen Mitteln eine Überführungsetappe machen. Das kostet viel psychische Überwindung. Es galt locker zu sein, die Landschaft zu genießen, die wirklich toll ist (Gänsegeier kreisten über unseren Köpfen. Beruhigend. Gleichmäßgige Flügelschläge), und zu plaudern.
Zeit für ein kleinen Plausch mit Simón.
« Hübsch, diese Pyrenäen, oder? Schön grün. »
« Mir sind das zu viele Algen. Man sieht das eigentliche Gebirge gar nicht. »
Das Wunder: In Laruns, auf 524m Höhe, reicht mir Sim noch eine Oblate, eine letzte Stärkung vor dem Anstieg, und ich schütte mir eine Flasche Weihwasser in den Nacken. Je höher es geht, desto mehr Zuschauer stehen am Streckenrand und je dichter wird der Weihrauch. Nach 12km mit über 7% mittlerer Steigung bin ich mir felsenfest sicher, Angela Merkel, Barack Obama und Michael Jackson unter den Zuschauern erblickt zu haben. Aber dann, wenige Meter, bevor man sich auf dem Rad aufgrund der Höhe vor dem herabhängenden Himmel bücken muss, um sich nicht den Kopf zu stoßen, tritt vom Streckenrand eine engelsgleiche Gestalt vor. Sie trägt ein weißes, seidenes Gewand, ein ringförmiges Licht um ihr Haupt und an ihren schmalen, edlen Händen Plastikklatscher aus dem Promo-Wagen. Erst nach der Abfahrt treffe ich Simón wieder:
« Hast du gesehen?! Hast du gesehen, was ich gesehen habe? Das war die Heilige Maria, das schwöre ich bei Himmel Arsch und Zwirn! »
Simón: « Quatsch. Du hast halluziniert. »
Ich: « Nein, das war eine Erscheinung, ich bin mir sicher. Und dieses Muster auf der Oblate… »
Simón: « Das war keine Maria, die da am Streckenrand stand! »
Ich: « Doch, und sie hat mir auch was gesagt. »
Simón: « Nein, war sie nicht und hat sie nicht. Das war Jesus, Mann! Du hast nicht richtig hingeguckt, du hättest den Schweiß aus den Augen wischen sollen. »
Das alles tippe ich nur so kurz, weil Simón und ich vorm Erscheinungs-Büro in Lourdes stehen und mein Laptop-Akku bald alle ist. Die Schlange ist noch sehr lang. Hoffentlich hat Simón an was zu essen gedacht.
Dinge, die wir nie von oder über xy hören oder sehen wollten:
Folge 4: Andy Schleck (Leopard-Trek). Achtung, ein wirklich beunruhigendes Bild. Wir rätseln seit zwei Wochen, wer diese ganzen Stürze im Regen verursacht…
… und dann stoße ich auf diese Regenjackeninkompetenz.
Muss man sich Sorgen machen?
Classement de l’étape
- HUSHOVD Thor 51 TEAM GARMIN - CERVELO 3h 47’ 36"
- MONCOUTIE David 157 COFIDIS LE CREDIT EN LIGNE 3h 47’ 46" + 00’ 10"
- ROY Jérémy 138 FDJ 3h 48’ 02" + 00’ 26"
- BAK Lars 172 HTC - HIGHROAD 3h 52’ 36" + 05’ 00"
- PINEAU Jérôme 127 QUICK STEP CYCLING TEAM 3h 52’ 38" + 05’ 02"
… - SELM Simón 233 EQUIPE AVONLEA 4h 09’ 44" + 22’ 08"
- AVONLEA 231 EQUIPE AVONLEA 4h 09’ 44" + 22’ 08"
- BECKER Markus 232 EQUIPE AVONLEA 4h 09’ 44" + 22’ 08"
Großartig! Die Regenjacke gefällt mir eindeutig besser als die Waden.
Und was die Erscheinung angeht… Das kann nicht von der Orangina kommen.
Aplause, aplause, sehr schön… Bin schon gespannt was morgen unter Einfluß des Lourdesiner Wunderwasser passieren wird. Markus Becker in Gelb, Simón der den Wagen von France 2,3 von der Strecke räumt…
16. Juli, 14. Etappe: St.Gaudens - Plateau de Beille, 168,5km
Abandon
8:30 Uhr, Lagegespräch am Frühstückstisch. Je länger wir in den Bergen sind, desto tiefer liegen die Augen in ihren Grotten und desto größer werden die Verbände. Wir sollten sie als zusätzliche Sponsorenfläche nutzen. „Heute ist die Königsetappe der Pyrenäen. Das ist nichts für uns Bauern.“, beschließe ich. Simón stimmt mir zu. Markus hat den Kopf in die linke Hand gestützt und stochert das heutige Etappenprofil in seinen Jogurtdeckel. „Markus, wenn du heute ins Gelbe willlst, musst du ungefähr zwei Stunden und elf Minuten vorausfahren. Meinst du, du kannst das?“
Das reißt ihn aus seinen Gedanken, für zwei Sekunden. Alle am Tisch wissen, dass Markus es entsprechend seines Kampfgewichtes am schwersten haben wird. Am Start saugt er noch einmal die Atmosphäre ein und fotografiert wie ein Wilder. Ein Tag, an dem es keiner Worte bedarf. Alle wissen, ohne dass jemand es sagen muss. Die Grausamkeit ist, dass man nichts machen kann. Jeder muss an sich denken, so auch ich.
Der Berg ist der Feind des Menschen. Zäher Schleim sammelt sich im Hals, dann kommt der Geschmack von Blut im Mund. In der Lunge rasselt alles, was rasseln kann, der Atem.
Jeder kennt den Otto-Sketch mit „Großhirn an Faust: ‚Ausfahren!‘“. So ähnlich geht es einem Radfahrer auf einer Bergetappe auch. Körperteile kommunizieren miteinander, es ist ein Diskurs aus Herz an Beine, aus Beine an Hirn, aus Magen an Speiseröhre. Man muss alle Willenskraft aufbringen, um selber mitreden zu können. „Klappe halten, Beine!“(1) oder „Tiefer atmen, Lunge!“. Immer wieder denken, dass aufgeben und langsamer machen keine Alternative ist. Keine Alternative. Man muss so tun, als hätte man keine Wahl als vorwärts zu preschen und als gäbe es keinen Abend, an dem man keine Treppe mehr hochkommen würde, nichts mehr essen möchte und der Kopf nur noch ein Deckel des Körpers ist, damit es nicht reinregnet. Ich kann nicht anders als an ein blödes, kleines Lied aus „Findet Nemo“ zu denken: ♫♪ Schwimmen, schwimmen, einfach schwimmen, schwimmen ♫♪.
Reden geht nicht mehr. Vor der Etappe habe ich mit meinem Iso-Drink-Träger Simón Zeichen verabredet. Ein Finger heißt: Flasche holen. Zwei Finger: Bitte Energygel rausrücken. Drei Finger: Ich möchte Müsliriegel. Vier Finger: Cola bringen. Fünf Finger: Bitte anschieben. Mittelfinger: Hör auf zu quatschen, lass mich alleine sterben.
Kurz nach der Verpflegungszone in Seix nach 76km funke ich Marisol an und frage, wo Markus ist. Sie sagt, er hängt wie eine Schlechtwetterwolke am Col de la Core fest, rollt einen Schritt vor und zwei zurück. Zehn Minuten später funkt sie, dass er wieder in Les Bordes-sur-Lez angekommen und rückwärts gegen einen Busch gefahren ist. Bei einem neuerlichen Anlauf ergeht es ihm ähnlich. Danach kam der Besenwagen und hat ihn auf unser Geheiß hin zu seinem Wohl mit einem Schleppnetz eingefangen und in den Wagen gehievt. Abandon. Einer, der auf der Strecke blieb. Ein Opfer der Berge. Die Rache der großen Steine an großen Flachlandtirolern. Alles hat hier ein Ende für unseren Philosophen. Zuende, was im Frühjahr auf Hooge begann und was in Frankreich erst richtig anfing. Aus. Ende Gelände. Erst ging ihm die Puste aus und dann die Straße. War trotzdem schön, Markus, dass du dabei warst. Im weiteren Verlauf der Tour setzen wir Herrn Becker als Masseur und Koch ein. 58 Stunden, 30 Minuten, 53 Sekunden Tour sind beendet. Und das hat noch einen Nachteil. Die 10 Minuten, die ich Vorsprung auf den Klassement-Letzten hatte, sind nichts wert. Lanterne Rouge für mich.
Am Anstieg ersehnt man die Abfahrt herbei, bei der Abfahrt wünscht man sich wieder einen Berg. Ich kann mich nie entscheiden, was besser ist. Eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Bei Anstiegen wird meinem Magen mulmig, bei Abfahrten wird mir mulmig im Magen. Bei Anstiegen kommt der warme Schweiß, bei Abfahrten der kalte. Ich bin ein klein wenig froh, in den Pyrenäen zu sein und nicht in den Alpen. So ist es nur ein leichter, grüner Abhang, den ich runterrutsche, als mein Rad übersteuert. Die Zuschauer am Rand machen „Oh là là“, aber ich weiß es besser als sie. Nichts fühlt sich gebrochen an. Eine leichte Schürfwunde am rechten Arm, etwas Haut am Knie abgesäbelt. Nichts ernsthaft verletzt, nur mein Stolz.
Kurz vor halb Sechs: Jelle Vanendert erreicht als Erster das Ziel. Kurz nach ihm bummeln die Favoriten ein, Andy Schleck macht als einziger Zeit gut: 2 Sekunden. In Worten: ZWEI.
Am Col d’Agnes ist meine Fahrt beendet. Von nun an sitzt ein anderes Wesen auf meinem Rad, mit schwabbligen Muskeln, gebrauchten Lungen und gebrochener Moral. Dennoch bin ich froh, diese Etappe nicht als Ich selber zuende gebracht haben zu müssen. Das macht es leicht, sich im Ziel einfach auf die Straße zu legen und in den Himmel zu gucken. Als ich in die Welt zurückgekehrt war, begann ich langsam an Montpellier zu denken. Es geht weiter. Die Karenzzeit ist geknackt und gar 60 Sekunden sind übrig geblieben. Kurz vor Sechs am Abend.
18:10. Marisol steuert uns im Teamfahrzeug den Pass hinunter. Die Ruhe in Person. Auf der Mittelwelle läuft ARD-Hörfunk. Reporter Holger Gerska nennt den immer noch in Gelb fahrenden Voeckler in einer Reihe mit Floyd Landis und Riccardo Riccò.
18:40 Essen. Immer nur essen. Es schmeckt schon lange nicht mehr. Niemand sollte essen müssen, wenn er nur noch schlafen will.
19:45 Der Blog-Eintrag ist fertig. Mein allerallerallerletzter aus den Pyrenäen. Für alle Zeiten. Schön war’s doch irgendwie.
P.S.: Das Erscheinungsbüro in Lourdes war eine Enttäuschung. Ich bin nicht katholisch und Simón ist Atheist. Man sagte uns, wir hätten Maria und Jesus nicht sehen dürfen und schickte uns hinaus.
[size=150]Was wir nie von oder über xy hören oder sehen wollten.[/size]
Folge 5: Jonathan Vaughters, Teamchef von Garmin-Cervélo und Ex-Rennfahrer auf Twitter gestern:
Sorry for lack of tweets today. co-director and driver, Bingen, ate something he was allergic to. He was the vomit comet in the caravan.
(1) Leider plagiiert
Classement de l’étape
- VANENDERT Jelle 38 OMEGA PHARMA - LOTTO 5h 13’ 25"
- SANCHEZ Samuel 21 EUSKALTEL - EUSKADI 5h 13’ 46" + 00’ 21"
- SCHLECK Andy 11 TEAM LEOPARD-TREK 5h 14’ 11" + 00’ 46"
- EVANS Cadel 141 BMC RACING TEAM 5h 14’ 13" + 00’ 48"
- URAN Rigoberto 118 SKY PROCYCLING 5h 14’ 13" + 00’ 48"
- CONTADOR Alberto 1 SAXO BANK SUNGARD 5h 14’ 13" + 00’ 48"
- VOECKLER Thomas 181 TEAM EUROPCAR 5h 14’ 13" + 00’ 48"
- SCHLECK Frank 18 TEAM LEOPARD-TREK 5h 14’ 13" + 00’ 48"
- PERAUD Jean-Christophe 108 AG2R LA MONDIALE 5h 14’ 13" + 00’ 48"
-
ROLLAND Pierre 188 TEAM EUROPCAR 5h 14' 13" + 00' 48"
…
165. SELM Simón 233 EQUIPE AVONLEA 5h 40’ 19" + 26’ 54"
…
170. AVONLEA 231 EQUIPE AVONLEA 5h 40’ 37" + 27’ 12"
Classement général
- VOECKLER Thomas 181 TEAM EUROPCAR 61h 04’ 10"
- SCHLECK Frank 18 TEAM LEOPARD-TREK 61h 05’ 59" + 01’ 49"
- EVANS Cadel 141 BMC RACING TEAM 61h 06’ 16" + 02’ 06"
- SCHLECK Andy 11 TEAM LEOPARD-TREK 61h 06’ 25" + 02’ 15"
- BASSO Ivan 91 LIQUIGAS-CANNONDALE 61h 07’ 26" + 03’ 16"
… - ENGOULVENT Jimmy 214 SAUR-SOJASUN 63h 26’ 46" + 2h 22’ 36"
- SELM Simón 233 EQUIPE AVONLEA 63h 29’ 31’’
- SABATINI Fabio 97 LIQUIGAS-CANNONDALE 63h 37’ 09" + 2h 32’ 59"
- JEROME Vincent 185 TEAM EUROPCAR 63h 37’ 48" + 2h 33’ 38"
- AMADOR Andrey 82 MOVISTAR TEAM 63h 45’ 42" + 2h 41’ 32"
- AVONLEA 231 EQUIPE AVONLEA 64h 01’ 32"