Les Herbiers, 1. Etappe: La Barre-des-Monts - Mont des Alouettes, 191,5km
Das große Aufbrechen
« Warm, bewölkter Himmel. Ich nehme meine Sachen aus dem Auto und setze mein Fahrrad zusammen. Von Straßencafés aus schauen Touristen und Einwohner zu. Nicht-Rennfahrer. Die Leere in ihrem Leben schockiert mich. » (1)
Ist je ein wundervollerer Satz über das Radfahren geschrieben worden als dieser? Die Leere in ihrem Leben schockiert mich. Mir fällt keiner ein und ich bezweifle, dass es einen gibt. Radfahren. Rennradfahren. Rennradfahren bei der Tour de France, das sind Komparativ und Superlativ des Erstgenannten. Große Dinge bedürfen großer Worte. Noch so eins: Grand Départ. Nichts ist passender als das für das, was heute war. Es einfach zu übersetzen mit « Beginn der Tour », wie man es hierzulande macht, ist ein bedauerlicher Diminutiv. Es ist nicht nur ein Beginn einer Radrenntour, es ist eben der Grand Départ. Das Große Aufbrechen. Frankreich erobern, die Grenzen des Raumes neu bemessen. Ein Stück Erde mit ungeheurer Geschwindigkeit und großer Muße zugleich erobern, auf einem Gefährt, das einen Menschen Motor und Passagier gleichzeitig sein lässt. Das ist Radsport und das ist die Tour de France. Der Giro d’Italia mag die spektakulären Matsch-Strecken und die halsbrecherischen Bergpässe haben. Die Vuelta a Espana mag Ähnliches versuchen. Aber Die Tour werden alle nicht erreichen. Schon allein aus dem wunderschönen Grund nicht, dass sie nunmal nicht Frankreich sind. Le Grand Départ, das Große Aufbrechen zur Tour war heute. Ehrfurcht ist die richtige Haltung. Vor Frankreich und vor der Tour.
Der Startort an der Küste fiel wieder einmal durch verbranntes Gras, viel Wind und Sonne und dem Geruch des Meeres auf. Kaum zu glauben, dass es gerade noch eine Woche hin ist, bis wir uns in den Pyrenäen abquälen. Jetzt noch fühlt man sich groß; sie können ruhig kommen, diese Berge! Obwohl jeder weiß, dass man sich gegen Ende dieser Woche in die Vendée zurückwünschen wird. Wo alles noch aufbruchsstimmerisch war, die Beine locker und der Geist wach. Und natürlich der Magen gut gefüllt. Im Fall der Equipe Avonlea vom exzellenten Buffet unseres Camping-Platzwartes, der im letzten Jahr noch weit fahren musste um an seinen Kasten deutsch-dänisches Grenzbier zu kommen. Und schon der Morgen hatte wieder etwas Symbolisches. Wir brachen unsere Zelte ab. Packten unsere Sachen. Banden unser Hab und Gut in ein Tuch und hängten es an einen Stock.
Wir gehen. Wir brechen auf.
Es war gut, all diese Leute wiederzutreffen, bekannte, besonnenbrillte Gesichter. Gleichgesinnte, die sich wie wir allzu bereitwillig den Meereswind durch die Löcher im Helm wehen ließen.
Neutralisierter Start. Warten, bis alle eingetrudelt sind und gesagt wurde, was gesagt wurde. Ein Cofidis-Fahrer zuppelt seinem Vordermann den Kragen zurecht, Tomatensoßeflecken vom Frühstück werden noch schnell rausgerieben, Trikottaschen mit Energy-Gels vollgestopft. Tony Martin schnippelt sich die Ärmel seines Maillot ab. Und dann rollen wir an, wie Entenbabys der Mutter Christian Prudhomme, dem Rennleiter, hinterher. Ungeheuer viele Menschen verabschieden uns und wir drehen unsere Runden über die Île de Narmoutier und die einst gefürchtete Passage du Gois. Wer nicht schnell genug ist, bekommt Aquaplaning, aber heute hatten wir genug Zeit, bis die Flut kam. Vive la marée basse!
Die Schwierigkeit der heutigen Etappe bestand aus zwei Dingen: Erstens die Nervosität des Pelotons überstehen und zweitens dem Schlussanstieg, dem Mont des Alouettes, der der Etappe einen Flair von Ardennenklassiker gab.
189 Fahrer plus wir drei. 12 Deutsche plus wir drei. Einer der deutschen Hoffnungsträger auf einen Etappensieg ist der Sprinter André Greipel, der mit 28 Jahren das erste Mal bei der Tour startet, nachdem er zu dieser Saison das Team gewechselt hat um dem Manx-Pummelchen und Sprint-Star Mark Cavendish aus dem Weg zu gehen. Es hat keine Stunde gedauert, noch lange vor dem eigentlichen Start, da fiel dieser Greipel schon vom Rad und hinterließ der Vendée die ersten Trikotschnipsel. Die Ehre des glimpflichen ersten Sturzes. Es sollte nicht der letzte Sturz bleiben, aber keiner hatte erwartet, dass diese Stürze schon so große Zeitlücken ins Feld reißen würden. Acht Kilometer vor dem Ziel verfängt sich ein Astana-Fahrer in einem Zuschauer, zwanzig, dreißig Fahrer stürzen, der Großteil des Feldes, darunter Contador, der Favoriten auf den Gesamtsieg, werden abgehängt und haben nach einem weiteren Massensturz im Ziel über eine Minute Rückstand.
Ich muss nicht erwähnen, dass auch mein Team verwickelt war. Ist halt so, wenn man immer am Ende des Feldes rumbummelt. Gestürzt sind wir aber zum Glück nicht, dafür hatten wir schon zu viel Bummelrückstand. Aber es war dann Stau. Bis dahin war es eine sehr lockere Fahr gewesen, wirklich. Teilweise konnte man unterwegs picknicken, bei 30 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit. Zudem mussten wir unsere Kräfte sparen für morgen, dem gefürchteten Team-Zeitfahren. Simon und Markus haben sich seit unserem Nicht-Teambuilding auf Hooge wieder versöhnt, wir werden also in einem Startblock starten, keine Angst.
Hach, war das heute ein schöner Tag. So könnte es ruhig weitergehen. Durch die Landschaft rollen, dem Monument Tour de France huldigen und das Savoir Vivre genießen. Danke übrigens für den Wein, Edwin. Passte gut in die Flaschenhalter.
(1) Tim Krabbé: Das Rennen. Reclam 2008, S.5. Erster Satz des Romans
Classement
- GILBERT Philippe 32 OMEGA PHARMA - LOTTO 4h 41’ 31"
- EVANS Cadel 141 BMC RACING TEAM 4h 41’ 34" + 00’ 03"
- HUSHOVD Thor 51 TEAM GARMIN - CERVELO 4h 41’ 37" + 00’ 06"
- ROJAS Jose Joaquin 88 MOVISTAR TEAM 4h 41’ 37" + 00’ 06"
- VAN DEN BROECK Jurgen 31 OMEGA PHARMA - LOTTO 4h 41’ 37" + 00’ 06"
- THOMAS Geraint 117 SKY PROCYCLING 4h 41’ 37" + 00’ 06"
- KLÖDEN Andréas 74 TEAM RADIOSHACK 4h 41’ 37" + 00’ 06"
- TAARAMAE Rein 151 COFIDIS LE CREDIT EN LIGNE 4h 41’ 37" + 00’ 06"
- HORNER Christopher 72 TEAM RADIOSHACK 4h 41’ 37" + 00’ 06"
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MARTIN Tony 175 HTC - HIGHROAD 4h 41' 37" + 00' 06"
…
194. TEN DAM Laurens 48 RABOBANK CYCLING TEAM 4h 48’ 21" + 06’ 50"
195. AVONLEA 231 EQUIPE AVONLEA 4h 48’ 23’’ + 06’52’’
196. SELM Simón 233 EQUIPE AVONLEA 4h 48’ 23’’ + 06’52’’
197. COYOT Arnaud 212 SAUR-SOJASUN 4h 49’ 25" + 07’ 54"
198. MINARD Sébastien 107 AG2R LA MONDIALE 4h 49’ 25" + 07’ 54"
199. BECKER, Markus 232 EQUIPE AVONLEA 4h 49’ 25’’ + 07’54’’
200. VAN DE WALLE Jurgen 37 OMEGA PHARMA - LOTTO 4h 50’ 41" + 09’ 10"
201. JEROME Vincent 185 TEAM EUROPCAR 4h 53’ 33" + 12’ 02"