… Ich kann also nur unterstellen, dass es sich bei dieser Frau im Krankenhaus um meine leibliche Mutter handelte, und außer diesem Leiblichen damals hatten wir nicht viel miteinander zu tun. Schon seit frühester Kindheit wohnte ich bei meinem Großvater, dem ich natürlich auch nur unterstellen kann, dass er mein leiblicher Großvater ist. Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihm und meiner Mutter, das Kinn, die kurzen Finger, das muss genügen, allen anderen Fragen wich er stets aus. Als ich einmal ein Foto bei ihm fand, das ihn als jungen Mann mit einem Mädchen auf den Schultern zeigt, fragte ich ihn, ob das meine Mutter sei. Er nahm das Foto, betrachtete es kurz mit zusammengekniffenen Augen, dann gab er es mir zurück und sagte: „Wahrscheinlich."
Mein Großvater hielt vieles für wahrscheinlich, dass noch Milch da war, dass bald Sommerferien seien, dass in Australien das Wasser verkehrt herum abfließt, ganz sicher könne man sich aber bei gar nichts sein, belehrte er uns gern, und wenn einer von uns altklug widersprach: „Außer, dass man stirbt", sagte mein Großvater: „Das ist in der Tat sehr wahrscheinlich."
Aber eine kleine Restchance schien er selbst dabei zu wittern, und in den letzten Jahren, seitdem sein Körper den angemessenen Verfall aufholte, klammerte er sich an diese Restchance mit einer Ausdauer, die man bei ihm sonst nicht vermuten konnte. Sein Ehrgeiz, nicht zu sterben, wurde nach und nach zu einer ausgewachsenen Obsession. Mehrmals im Monat musste man mit ihm zum Friedhof, wo er dann Grab um Grab abschritt und triumphierend „Jünger", „Viel jünger", „Fast gleich alt" rief, und wenn es doch jemand gewagt hatte, erst in gesetztem Alter zu sterben, notierte er sich die genauen Daten, die er dann in die Liste über seinem Schreibtisch übertrug. 72 Jahre 112 Tage, 79 Jahre 6 Tage, 83 Jahre 299 Tage, und jedes Mal, wenn er wieder einen von der Liste überholt hatte, wenn er wieder einen Namen durchstreichen konnte, rief er uns zusammen. „Glückwunsch, Großvater", sagten wir dann im Chor, und er winkte ab: „Danke, aber noch ist nichts erreicht."
Sein später Wunsch, alle zu überleben, nahm nach und nach beängstigende Formen an. Der Tod war nicht nur sein Gegner, sondern wurde auch immer mehr zu seinem Gehilfen, genüsslich las er beim Frühstück die Todesanzeigen vor, jedem vorbeifahrenden Krankenwagen schaute er hoffnungsvoll nach, er entwickelte eine verdächtige Vorliebe für Katastrophenfilme, und erst in letzter Sekunde konnten wir eines Nachmittags verhindern, dass er die Schildkröte meiner jüngeren Schwester beerdigte, „Sie war klinisch tot, ehrlich", behauptete er, auch wenn sie in der kaum knöcheltiefen Grube sichtlich mit den Beinen zappelte.
Es gab Momente in den letzten Jahren, in denen wir uns ernsthaft Gedanken um unsere Sicherheit machten. Wenn einer von uns nur hustete, horchte mein Großvater sofort auf, „Das klingt aber gar nicht gut", und es war nicht Sorge, was da in seiner Stimme mitschwang. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir das alles nur einbildete, aber die Vorfälle häuften sich. Meinem ältesten Bruder schenkte er ständig Wein nach, auch wenn dieser mehrfach betont hatte, noch fahren zu müssen, meine ältere Schwester berichtete von auffallenden Kratzspuren am Kabel ihres Föhns, und als ich vor einigen Monaten nach dem Einkauf einen Kasten Wasser in den Keller trug, schaltete mein Großvater, während ich mich noch mitten auf der steilen Treppe befand, das Licht aus. „Entschuldigung", sagte er, als ich mich umgehend beschwerte, schaltete das Licht aber dennoch nicht wieder an.
Ungefähr zu dieser Zeit, fing mein Großvater auch an, meine Geschwister und mich zu bezichtigen, ihm nach dem Leben zu trachten. Andauernd stimmte anscheinend etwas mit seiner Medikation nicht, andauernd wurde ihm angeblich Butter in sein Essen gemischt, obwohl er doch auf sein Cholesterin zu achten hatte, andauernd wurden angeblich ständig von irgendwem Fenster geöffnet, damit er sich den Tod hole. „Aber nicht mit mir, meine Lieben", sagte er dann. „Mit mir nicht."…