24.Juli, 21. Etappe: Créteil - Paris, 95km
Triumphboucle
« SIMÓN! AUFWACHEN!!! HERR SELM, HÖREN SIE MICH?! » Das war, was ich aus dem Nachbarzimmer hörte, als ich schon unter der Dusche war, am Morgen unseres letzten Tour-Tages in Créteil. Im Nirgendwo im Speckgürtel von Paris, der Hauptstadtkrake Frankreichs und dem Sehnsuchtsziel aller Rennfahrer. Nebenan im Jungszimmer schüttelte Markus Simón und brüllte ihm ins Ohr. Kurz darauf donnerte es zweimal an der dünnen Wand. Erst danach zeigte der kraftlose Körper unseres Halbspaniers Lebenszeichen. Ich war froh über seine Worte. « Schon gut, schon gut! Ich bin wach, Mann! Siehst du, ich bin wach! Lass mich runter. » Es plumpste, ich unterbrach das Zähenputzen vor Schreck. Dann rubbelte jemand mit einem Handtuch an der Wand. Blutspuren. Und ein wütender Simón: « Alles abwischen! Wenn das jemand sammelt und in Konserven einfriert, habe ich ein Riesenproblem. Und alles wegen dir! Mach ordentlicher! »
Noch einmal essen vorm Rennen. Noch einmal klebrigen Reis mit Tomatensoße. Müsli. Matschige Cornflakes. Immer wieder muss ich an ein Bild denken, das die Gedanken meiner Tour geprägt hat. Der Koch von Leopard-Trek hat ein Bild gemacht mit all dem, was ein Fahrer an einem Tag isst. An einem Tag! Man könnte die Not Afrikas lindern, wenn man die Tour de France absagen würde.
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169 Fahrer haben Paris erreicht. Das sind so viele wie nie zuvor. Die meisten der Gestrandeten mussten sturzbedingt schon in der ersten Woche die Segel streichen, danach ging’s. Es ist vorbei, jetzt für alle anderen. Man weiß, dass es Zeit ist, diese Tour zu beenden, wenn Teamkollegen unter ihrer Brille die Augenlider mit Streichhölzern stützen. Und wenn sie auf dem Rad sitzen wie auf einem Trecker.
Die Sonne schien in Créteil, versöhnliche 20°C entlang der Strecke und Unmegen von Menschen, wieder einmal. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich mich fühlte wie eine Tour-de-France-Heldin oder wie ein Wagen beim Karneval. Alle sind fröhlich, aber müde. BMC führt die Tour d’Honneur an und wir bummeln nach Paris. Ein Fahrer hat eine Tüte Gummibärchen dabei und reicht sie durchs Feld. Hundert andere haben mehr als ein Bier intus. Alle Straßen, die wir an diesem Tag befahren, sind voies rérvées aux véhicules lents. Simón gebührt die Ehre eines letzten Sturzes. Sah ungefähr so aus. Und hier noch ein Foto.
Bitte lächeln! Warum ist ein Teil blau? Der Nachkolorierer unserer Fotos saß bei diesem im Halbdunkeln und dachte, der Stift wäre schwarz. Unerhört. Der wird sofort gefeuert.
Heute am letzten Tag bringt es nichts mehr, Energie zu sparen für den nächsten Tag, oder für einen Tag, an dem es noch schlimmer kommen könnte. Und das ist das Drama. Alles muss raus. Ausverkauf der Kräfte. Strampeln bis zum Umfallen. Das Tempo wird höllisch, wenn man erst in Paris ist. Vorbei an den Sehenswürdigkeit und Juli-Touristen. Eine perfekte Zuckerguss-Kulisse.
Es war schwer, dranzubleiben. Keiner von uns rechnete damit, abgehängt zu werden. Und die Sprinterteams gaben Gas. Wer der 169 hat schon Probleme, mit 60 km/h bergab über das Kopfsteinpflaster der Elysischen Felder zu brettern? Genau zwei. Na gut, eigentlich nur einer. Der andere aber ist vertraglich dazu verpflichtet, dem einen zu helfen. Das machen Iso-Drink-Träger so.
Es war eine Schmach, an den Zuschauern vorbeizukommen, nachdem das Feld schon lange durch war. Nachdem man schon aufgehört hatte zu klatschen und wir den Spott in ihren Augen sehen konnten. Touristen. Kleine, miese Tour-Touristen, die keine Ahnung haben, was wir geleistet haben. Doch das Drama war noch nicht beendet. Auf der Ziellinie kam es beinahe zu einer Sensation. Der offizielle Teil des Endes sah so aus, dass Mark Cavendish wieder einmal siegte und Francesco Giovanni da Cancellara noch im Sprint versuchte, einen prestigeträchtigen Sieg zu erlangen. Hat nicht gereicht. Und der Tour-Sieger unmittelbar nach der Zieldurchfahrt links gegen die Bande fuhr und sich von seinen acht Kollegen erdrücken und herzzerreißende Tränen rausquetschen ließ. Hat Lance Armstrong je geweint, nachdem er die Tour gewonnen hatte? Hat Alberto Contador je geweint?
Alle standen sie nach der Linie des Triumphes und feierten das Ende von über 3000km durch Frankreich. Alle, bis auf zwei. Dass es Ende Juli in Frankreich mal zu Staus kommen kann, ist nichts Neues, aber bei diesem hier hat Bison Futé versagt. Zwei, zwei einsame Fahrer warteten darauf, dass auch sie diese verdammte Linie überqueren durften. Sim: « Das kann nicht sein. Lasst uns durch! Wir fahren noch ein Rennen! », rief er, aber man erhörte uns nicht. Die letzten zwanzig Zentimeter und man verweigerte uns die. Fünf Minuten lang erstarrten wir zu einer Staun-Säule und begannen dann in Panik auszubrechen. Das Zeitlimit. Hors délai. Abandon. Das drohte uns. Als erste in der Tourgeschichte. Und das ohne eigene Schuld.
Markus stieg aus dem Begleitfahrzeug aus und versuchte zusammen mit Simón, den freudentaumelnden Rennfahrerblock ein Stück nach vorn zu schieben. Vereinzelt ploppten leichte Bergflöhe aus der Menge hervor nach oben, der Rest der brabbelnden und nichts schnallenden Menge bewegte sich unter Einsatz von Markus’ ganzer Muskelkraft nur langsam. Noch drei Minuten bis zur Dead Line. Reicht es, wenn wir unsere Räder über die Köpfe der Rennfahrer hinweg über die Ziellinie hieven? Löst das die Zeitmessung aus?
Schließlich gelang es uns, unsere Räder zwischen die Lücken der anderen Radfahrer zu drängen und uns selbst auch. Endlich. Vorbei. Geschafft. Das Rennen und uns selber. Als sich der Stau auflöst und alle zur Siegerehrung stürmen, liegen zwei von 169 Fahrern mitten auf den Champs Elysées. Welche in Triumph.
Drei Wochen Tour und Unmengen an Milchsäure in den Muskeln haben unsere Körper zerlegt. Wir dienen maximal noch dazu, Gurken einzulegen.
Was für eine Tour! Die Streckenführung hat uns von der ersten Etappe an ein spannendes Rennen geboten, zum Preis zahlreicher Stürze, leider. Wir sahen einen Vielkampf um den Sieg der Tour und wir hatten tolle Etappensieger. In der Endabrechnung setzten zwei Luxemburger, zwei Italiener, zwei Spanier, zwei Franzosen und je ein Australier und Amerikaner die Top 10 der 2011er Auflage. Unvergessliche Landschaften und alle Formen von Regen rundeten dieses Rennen ab. Und seit Jahren beschäftigt mich bei der Tour vor allem auch ein landschaftliches Problem: Welches Gebirge habe ich lieber, Pyrenäen oder Alpen? Was ist nach meinem Maßstab schöner? Letzes Jahr ging es erst in die Alpen, dann in die Pyrenäen und die Sache war klar: die Alpen. Jetzt hatten wir erst die Pyrenäen und dann die Alpen und jetzt habe ich meine Meinung geändert:die Pyrenäen. Mit dem Ende dieser Tour stelle ich aber fest - und das ist eine große psychische Erleichterung - dass immer das Gebirge am schönsten ist, das zuerst kommt. Wenn die Tour noch frisch ist.
Siegerehrung. Ein Podium, auf dem alle drei auf einer Höhe stehen - ein Sinnbild der diesjährigen Tour. Ein doch würdiger Sieger. Kein junger Wilder, der den Aufbruch verkündet. Keiner, der ein Supertalent ist, sondern einer, der lange gearbeitet hat und jetzt kurz vor der Rente den Lohn dafür erhält. Die Équipe Avonlea meint: So sollte es sein. Und ist im Sinne der Tour froh, dass nicht die Buchhalter unter den Fahrern das größte Rennen der Welt für sich entscheiden konnten.
Die letzten Züge.
Der ZDF-Kommentator beklagt mangelndes Interesse der Öffentlichkeit am Radsport und an den jungen Talenten.Wer ist denn Plattform für das Interesse der Öffentlichkeit? Unmittelbar nach der Zieldurchfahrt laufen die Nachrichten, danach verabschiedet man sich aus Frankreich zur Leichtathletik nach Kassel. Nur für die Archive: Dieses hier ist das letzte, das allerletzte Bild öffentlich-rechtlicher Liveberichterstattung von der Tour de France:
Danach schaltet Marisol wieder zu Eurosport.
Mit dem heutigen Tag und diesen Worten löst sich die Equipe Avonlea auf und bedankt sich für eure Unterstützung bei zwei Touren. War eine tolle Zeit, mir hat es Spaß gemacht und ich hoffe, der ein oder andere hier der 70 täglichen Mitleser hat sich auch gut unterhalten gefühlt bei insgesamt fast 7000 Kilometern kreuz und quer durch Frankreich. Vielleicht ist auch einer auf den Geschmack gekommen, die Tour nicht mehr nur einseitig von der negativen Seite zu betrachten, ein halbes Jahrzehnt nach dem Sündenfall.
Wir gehen ohne Reue. Merci et adieu.
Classement de l’étape
- CAVENDISH Mark 171 HTC - HIGHROAD 2h 27’ 02"
- HAGEN Edvald Boasson 114 SKY PROCYCLING 2h 27’ 02" + 00’ 00"
- GREIPEL André 33 OMEGA PHARMA - LOTTO 2h 27’ 02" + 00’ 00"
- FARRAR Tyler 54 TEAM GARMIN - CERVELO 2h 27’ 02" + 00’ 00"
- CANCELLARA Fabian 12 TEAM LEOPARD-TREK 2h 27’ 02" + 00’ 00"
- OSS Daniel 95 LIQUIGAS-CANNONDALE 2h 27’ 02" + 00’ 00"
- BOZIC Borut 202 VACANSOLEIL-DCM 2h 27’ 02" + 00’ 00"
- VAITKUS Tomas 68 PRO TEAM ASTANA 2h 27’ 02" + 00’ 00"
- CIOLEK Gerald 123 QUICK STEP CYCLING TEAM 2h 27’ 02" + 00’ 00"
-
ENGOULVENT Jimmy 214 SAUR-SOJASUN 2h 27' 02" + 00' 00"
…
168. AVONLEA 231 EQUIPE AVONLEA 2h 35’ 08’’
169. SELM Simón 233 EQUIPE AVONLEA 2h 35’ 08’’