La Belle Époque: Wiege des Motorsports

Kaum hat es den ersten warmen Tag des Jahres gegeben, liegt die Qualitäskurve am Boden. :open_mouth:
Das muss sich ändern. Ich habe mich mal mit einem kulturwissenschaftlichen Thema beschäftigt, das zufällig im weitesten Sinne etwas mit Sport zu tun hat. Aus heutiger Sicht, nicht aus der damaligen, wie auch aus meiner Forschung hervorgehen wird. :mrgreen:

Es geht um eine Zeit, in der Motorsport noch unschuldig war. In der die Maschine der Messias des modernen Menschen war, ein Instrument um den Raum zu erobern wie Abenteurer, und nicht um sich fortzubewegen. Eine Zeit, in der wir nichts von Klimaerwärmung wussten, nichts von Wirtschaftsimperien und Instrumentalisierung. Eine Zeit der kulturellen Blüte vor dem ersten Weltkrieg. Ich möchte hier die Entstehungsgeschichte des Motorsports nachzeichnen, die ihren Anfang in unserem Lieblingsland nahm, in Frankreich. Während man sich heute nicht mehr vorstellen kann, dass Literatur und Kunst noch irgendeinen Einfluss auf das Zeitgeschehen haben, so bildeten Künstler damals jede Entwicklung ab und erklärten sie auf besonders ästhetische Art und Weise. Es geht hier also nicht nur um Motoren, sondern vor allem um die Kunst, Prestige und Champagner.

Keine « vorübergehende Erscheinung »

Das Automobil mag ich Deutschland erfunden worden sein, aber nirgendwo stand man diesem höllischen Gefährt so skeptisch gegenüber wie hierzulande. Wie absurd es wäre, wenn heute unsere Kanzlerin keine Automobilkanzlerin wäre und Deutschland keine Autonation. Damals aber sprach Kaiser Wilhelm II. wirklich aus, dass das Auto « eine vorübergehende Erscheinung » sei und Pferde ihm immer vorzuziehen seien. Bei unseren französischen Nachbarn hingegen hatte man die Bedeutung des Autos schon wenige Jahre nach seiner Erfindung begriffen: „Der Automobilismus ist nicht nur eine einfache industrielle Begebenheit gewesen: er ist von nun an auf eine enge Weise an die Geschichte der zeitgenössischen Eleganz gekoppelt“,schrieb der Journalist Alfred Capus 1906. Keine vorübergehende, sondern eine kulturelle Erscheinung ist dieses Gefährt. Erst kurz zuvor hatte das erste Autorennen überhaupt in Frankreich stattgefunden: 79 Meilen, von Paris nach Rouen, organisiert und begleitet von Journalisten … auf Fahrrädern. Es diente einzig als Haltbarkeitstest, um die Zuverläsigkeit der Wagen zu prüfen. Im Laufe der jahre entstanden immer neue Fernfahrten und das Element der Geschwindigkeit fügte sich an, heute das identitätsstiftende Merkmal des Autos und des Motorsports, damals aber noch nicht charakteristisch. Der Sieger einer Fahrt nach Bordeaux brachte es im Schnitt auf 24 Kilometer pro Stunde.


Paris-Rouen, 1894.
Quelle: mediawiki

Marcel Proust, ein Autonarr unter den Schriftstellern

1895 gab es in Frankreich erst rund 300 Automobile, neun Jahre später waren es 17.000. Das Bild der Straßen veränderte sich maßgeblich und so fand der Automobilismus auch Eingang in die Literatur, Schriftsteller jener Zeit bildeten in ihren Werken den Zeitgeist ab. Unter den Auto-Verehrern Frankreichs befand sich der bedeutendste Schriftsteller der Belle Époque, Marcel Proust, der jedoch anders als viele seiner Zeitgenossen nicht die Geschwindigkeit liebte, sondern die Langsamkeit und so mit Wehmut zurück, aber mit Faszination auf die Gegenwart blickt. In seinem 1907 erschienenen Zeitungsartikel „Impressions de route en automobile“ schildert er eine schnelle Autoreise, das Fahrzeug steuert ein Chauffeur, jener Kutscher der Moderne, den die Franzosen erfunden haben:
„Als wir Lisieux verließen, herrschte schwarze Nacht; mein Chauffeur hatte einen weiten Gummimantel übergezogen und eine Arte Kapuze aufgesetzt, die sein bartloses Gesicht umrahmte und ihn, während wir immer rascher durch die Nacht fuhren, einem Pilger oder eher einer Nonne der Geschwindigkeit ähnlich machte. Von Zeit zu Zeit rührte er - eine heilige Cäcilie, die auf einem noch weniger materiellen Instrument improvisiert - an die Klaviatur und zog ein Register jener Orgeln, die im Automobil verborgen sind und deren stets gegenwärtige Musik wir meist nur bei jenem Registerwechseln bemerken, als die uns die Gangwechsel erscheinen; eine gleichsam abstrakte Musik“.


Typisches Belle-Epoque-Poster
Quelle: vintage-poster-market.com/

Nachher geht es weiter mit dem Bild des Sportes in Frankreich, das den Siegeszug des Autos begünstigste, sowie den ersten Sponsoren. :wink:

Champagner und « savoir faire »

Dass es überhaupt den Siegeszug des Automobils geben konnte, ist dem « goldenen Zeitalter », der französischen Belle Époque geschuldet, die durch ihre geistige Offenheit erst einen Wandel möglich gemacht hat. Erstmals in der Geschichte der Menschheit schaut man nicht mehr mit Wehmut zurück, sondern nach vorne, der Fortschrittsgedanke durch Technik fand eine religiöse Komponente. Man genoss die neue Freiheit des Geistes, den Luxus, dem Laster und glaubte nach dem Ende des deutsch-französischen Krieges daran, dass es nie wieder zu Barabarismus kommen würde. Diese Entwicklung ermöglichte, dass Motorsport in der französischen Oberschicht einen Platz fand und Automobilismus als soziale Bewegung erstmals in Frankreich stattfand - nicht in Deutschland, nicht in England, nicht in Italien.

Zu verdanken ist dies unter anderem einem anderen Bild vom Sport:
Anders als in Deutschland oder England war der Sport an sich nämlich eine späte Ideologie, die erst jetzt nach Frankreich drängte, und das in einer ganz eigenen Form. Sport diente jetzt dazu, den Körper zu stählen und so Herr über die Maschinen zu werden.
Nicht Mannschaften oder Leichtathleten wurden die ersten französischen Sportstars, sondern Radrennfahrer oder Flieger wie Louis Blériot, der als der Pionier des Air Racings gilt und zudem als erster den Ärmelkanal im Flugzeug überquerte und die Massen begeisterte. Wo die ausgeklügelten Hochleistungsrennwagen unserer Zeit rasende Zigarettenschachteln sind (bzw. waren, seit dem Tabakwerbeverbot 2006), zierten schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts fliegende Champagnerflaschen den Himmel über französischen Flugplätzen. Champagner, jenes Getränk, das noch heute als Luxus gilt und bei jedem Grand-Prix-Sieg Zeichen des Triumphes wird, begründet seinen Ruhm in der französischen Belle Époque. Das damalige Modegetränk wurde bei Rennen aller Art ausgeschenkt. Wo sich Männer sportlich duellierten und ihre Macht gegenüber den neuen Maschinen demonstrierten, trank das ausnahmslos gutbetuchte Publikum Champagner, das neue Symbol der Jugendlichkeit, des Luxus, des Sieges. Flieger wie Blériot kämpften in Wettbewerben wie dem „Prix Mumm des Aéronautes" oder dem „Prix Pommery du Tour de Piste“. Als Autorennen mehr und mehr in Mode kamen, war es nur natürlich, dem Champagner auch dort einen Platz zu verschaffen. Knallende Korken wurden zur Metapher der Freiheit und des Sieges.


Louis Blériot beim Prix Pommery d.T. des Aéronautes
Quelle: aviation.maison-champagne.com

Außerdem hatte Napoleon dafür gesorgt, dass Frankreich gut ausgebaute Straßen hatte, anders als Deutschland. Der erste Motorsport fand nämlich auf offenen Straßen statt und nicht auf eigens für die Raserei gebauten Rundkursen.

« Savoir faire » statt « laisser faire » oder « savoir vivre » - das zeichnete Frankreich damals aus, während man Gründlichkeit und Cleverness sowie Disziplin und Innovation eher mit dem deutschen Ingeneirustum assoziieren würde. So waren es zwar deutsche Lizenzmotoren von Benz, die die Wagen antrieben, aber die Konstruktionen, wie sie Geschichte schrieben, blühten unter französischem Erfindungsreichtum auf, bis 1914 ist Frankreich der zweitgrößte Produzent von Fahrzeugen in der Welt, 150 Konstrukteure beherbergt das Land, darunter die Brüder Renault, Dion-Bouton, Panhar und Lavassor. Die Pioniere auf Rädern finden in Paris eine optimale Bühne, Französisch wird Motorsportsprache; Bezeichnungen wie „Pneu“, „Chassis“ oder „Grand Prix“ sind bis heute international. 1913 konnte Peugeot das erste Mal die 500 Meilen von Indianapolis gewinnen. Es waren zudem Zeitungen, die als Veranstalter von Autorennen auftraten, dem noch jungen Sport so Aufmerksamkeit verschafften und die zwangsläufig parteiisch für den Motorsport auftraten.

Forza feminina!

Es waren keineswegs nur Männer, die Automobile steuerten. Auch gutbetuchte Frauen nutzten das neue Gefährt und teure Spielzeug für Spazierfahrten im Bois de Boulogne von Paris, dem Zentrum des gesellschaftlichen Lebens der Stadt und Zeichen der Mondänität schlechthin. Das Auto fügte sich hervorragend in diesen ausschweifenden Stil der Adeligen und Reichen ein. 1897 war es die Duchesse d’Uzès, die als erste Frau ihren Führerschein machte und wenig später auch als erste Frau eine Strafe für die Übertretung der Höchstgeschwindigkeit auf öffentlicher Straße bekam: Statt der erlaubten 12 raste sie mit 15 km/h durch die Landschaften.

Die Duchesse d’Uzès
[size=75]Quelle: fr.wikipedia.org[/size]

Doch eine Frau als Rennfahrerin? „Une femme au volant d’une voiture de course… il ne faut pas“. Eine Frau am Steuer eines Rennwagens… das gehört sich nicht. Dieser allgemeine gesellschaftliche Zwang hinderte die Frauen der Belle Époque jedoch nicht daran, Rennen zu fahren und entgegen aller Erwartung wurden sie gar von den Männern bewundert und verehrt. Eine dieser frühen Rennfahrerinnen war Camille du Gast, die 1901 als einzige Frau an dem Rennen Paris-Berlin teilnahm und von 154 Gewerteten Dreißigste wurde.


Camille du Gast.
[size=75]Quelle: s1.e-monsite.com[/size]

1868 wurde sie in Paris als Marie Marthe Designe geboren, heiratete als 22-Jährige den Kaufmann Jules Crespin und wurde Mutter einer Tochter. Für ihre sportlichen Abenteuer nannte sie sich Camille du Gast. Sie startete bei zahlreichen Autorennen, bei denen ihr Mann als ihr Co-Pilot auftrat, war zudem Alpinistin, Fallschirmspringerin und fuhr Bootsrennen. Du Gast suchte unerschrocken die Extreme, galt als Männerschwarm und wurde auch unter den Frauen für ihren Mut bewundert. 1904 wurde sie vom Automobilclub Frankreichs jedoch ausgeschlossen, aufgrund ihrer „weiblichen Nervosität“, wie es in der Begründung hieß. 1910 verließ sie die Bühne des Extremsports und widmete sich bis zu ihrem Tod 1942 ihrem sozialen Engagement.

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