Samuel Benchetrit - Rimbaud und die Dinge des Herzens etc.

Rimbaud und die Dinge des Herzens /Le cœur en dehors (2009): Es war Ende des letzten Sommers, als ich nach der Arbeit und auf die Bahn wartend mal wieder bei einer großen hamburger Buchhandlung vorbeischlurfte, in der Hoffnung, es gebe dort wieder diese Grabbelkiste mit Mägelexemplaren. Und tatsächlich, ich hatte Glück und grub mich durch die Kiste, auf der Suche nach Kleinoden mit Kratzern. Eines davon, jenes, das ich als letztes herausfischte, war Rimbaud und die Dinge des Herzens. Ich brauchte eine Sekunde, um zu wissen, dass es ein gutes Buch sein würde (Rimbaud!), und eine Woche später in der Bahn - ich weiß es noch genau, es regnete fürchterlich und zwar hatte es genau in dem Moment begonnen, als ich das Haus mit dem Rad verließ - etwa zehn weitere Sekunden, die es brauchte um die erste Seite zu lesen, um zu wissen, dass das hier ein Buch war, auf das ich lange gewartet hatte. Jeder Lesefreund kennt das, man liest und liest, aber vor allem in der Hoffnung, ein unbekanntes Goldstück zu finden, das man immer und immer wieder lesen möchte und das noch in zehn Jahren. Nach einer langen Durststrecke hatte ich es in diesem Buch endlich gefunden. Der Protagonist Charly philosophiert mit seinem Kumpel Yéyé über den Namen des hässlichen Hochhauses, in dem sie leben. Rimbaud-Turm, welch Euphemismus. Yéyé erklärt, dass Rimbaud ein toter Dichter ist. « Ich habe natürlich gleich gefragt, ob er gestorben ist, nachdem er unseren Wohnturm gesehen hat. » Ich hatte lange kein lustig geschriebenes Buch über ein ernstes Thema gelesen, aber hier kündigte es sich schon nach einer Seite an.

Ein Tag, ein zehnjähriger Junge und ein Plattenbauvorort von Paris. Alles drei für sich sind schon eine schriftstellerische Herausforderung, aber hier traut sich Benchetrit an alles drei auf einmal. Und er besteht nicht nur, sondern macht aus seinem Roman ein echtes Leseerlebnis. Was auf die erste Seite folgt, ist sowas wie das kürzeste Roadmovie der Welt, bewegt sich Charly doch nur in seinem Viertel, in dem Paris unerreichbar fern ist: Eines Morgens wird Charlys Mutter von der Polizei abgeholt, er sieht es auf dem Weg zur Schule. Daraufhin macht er sich auf die Suche nach ihr, läuft durch sein Viertel und schweift dabei immer ab in seine eigene Geschichte und erzählt so manche Anekdote, sodass er selber und der Leser mit ihm manchmal vergisst, was er eigentlich gerade macht. Man spürt die Tristesse und die Tragik der pariser Vorstadt mit voller Wucht vor allem dadurch, dass es ein Kind ist, das sie in seinen Worten schildert, denn es ist seine Umgebung und sein Zuhause. Dabei kann es hier wie auch sonst dahingestellt bleiben, ob so ein Zehnjähriger redet. Ich empfinde dieses kleine bisschen Mehr nicht altersgerechter Weisheit, die der Autor Charly verleiht, als gekonntes Stilmittel. Vor dem Hintergrund, dass man alles durch die Augen eines Kindes sieht, sind auch die anderen Charaktere gut getroffen; die Mutter, Charlys Schwarm Mélanie und sein drogensüchtiger Bruder Henry, zu dem er eine schwierige Beziehung hat, den er entgegen seiner eigenen Schilderung aber auch sehr liebt. Diese Verbindung ist besonders gelungen und berührend dargestellt.

Das hier ist ein Roman, den ich immer wieder lesen werde und dessen Witz und Tragik mich wohl erneut faszinieren wird. Wie einen ein kurzer Nebensatz auflachen lässt und man im nächsten schon wieder weinen sollte, da es in unseren Städten tausende von Rimbaud-Türmen gibt. Aber hoffentlich auch den einen oder anderen klugen, aufgeweckten Charly.

Der Autor: Samuel Benchetrit ist ein wahres Multitalent und verdient seine Croissants hautpsächlich als Regisseur und Drehbuchautor, aber auch als Schauspieler und hin und wieder am Theater. Seit dem Jahr 2000 hat er fünf Bücher veröffentlicht, Le cœur en dehors war das bisher vorletzte. Mit einer besonders tragischen Geschichte kann man seinen Namen auch in Verbindung bringen: Er war bis zu ihrem Tod 2003 mit Marie Trintignant verheiratet, die von Bertrand Cantat (Noir Désir) totgeprügelt wurde.
Benchetrit ist in der französischen Öffentlichkeit ein bisschen umstritten, er scheint wohl eine arrogante Seite zu haben und auch die Qualität seiner Erzählungen aus der Banlieue ist öfter in Frage gestellt worden. Meines Erachtens sollte man aber zumindest die Kommentare auf Youtube nicht als Gradmesser nehmen (Antisemitismus?), sondern wie immer in der Kunst, das Werk betrachten. Und sich natürlich unter Umständen auch ein bisschen an der beau physique und der belle voix erfreuen. :wink:

Video: Le cœur en dehors zusammengefasst vom Autor selber
frz. Wikipedia
Buch: Aufbau Taschenbuch, 2012. 254 Seiten, 8,99€ (oder mit Glück für 2,50€ :smiley:)
Buch: Le cœur en dehors, Reclam Rote Reihe mit Annotationen von Herbert Keil, 288 Seiten, 7,80€.

Das scheint eigentlich ein lesenswerter Roman zu sein, weit von den Klischees, die man zu oft in Gedanken hat, wenn man den Pariser Vorort erwähnt.
Avonlea schrieb :

Eine Mischung zwischen Traurigkeit und Zärtlichkeit.
Wenn ich diese sehr informatorische Rezension lese, habe ich den Eindruck einige Gesichter von französischen Jungen mit subsaharischer Herkunft zu erkennen. Diese französischen Jugendlichen , die ich täglich treffe, wenn ich aus meinem hässlichen Hochhaus gehe, um den Bus nach Port d’Orleans zu nehmen.

Und hier eine Leseprobe auf Französisch
http://www.grasset.fr/chapitres/ch_benchetrit.htm

Danke für Deine Rezension Avonlea, jetzt weiß ich wonach ich auf dem Grabbeltisch suchen muss, so wie Du dieses Buch gefunden hast find ich auch immer Prima. Ohne Erwartung den Tisch « umgegraben » und ein neues Lieblingsbuch gefunden :smiley:

Oh, ich habe nicht erwähnt, dass Charly tatsächlich Schwarzafrikaner ist.