Dieser 2021 erschienene Roman von Clara Dupont- Monod, der mit dem Prix Fémina 2021 ausgezeichnet wurde, ist eine sehr einfühlsame literarische Verarbeitung des Lebens einer Familie mit einem körperlich und geistig behinderten Kind. Das dritte Kind der südfranzösischen Bauernfamilie ist stark körperbehindert; der blinde Junge lernt nie sprechen, hat aber ein gut ausgeprägtes Hörvermögen. Nach dem ersten Schock bemühen sich alle Familienmitglieder trotz ihrer Belastungen um eine optimale Betreuung des behinderten Familienmitglieds. Das Leid der Familie und das Unver-ständnis von Personen außerhalb dieser Familie führen zu einer weitgehenden Isolierung und zu einem Eigenleben dieser Familie. Der ältere Bruder, der sich aufopferungsvoll um seinen geliebten kleinen Bruder kümmert, entwickelt ein besonders enges Verhältnis zu ihm und es gelingt ihm, unter Nutzung des sehr guten Hörvermögens des behinderten Bruders, bei diesem eine geistige und emotionale Entwicklung auszulösen, die für die beiden Brüder eine Bereicherung ihres Lebens wird, vor allem hinsichtlich ihres Erlebnisses der Natur. Dass der ältere Bruder dabei trotz seines schulischen und be-ruflichen Erfolgs auch nach dem Tod des keinen Bruders nach 10 Jahren Betreuung gesellschaftlich weitgehend isoliert bleibt und emotional mit seinem verstorbenen Bruder weiterlebt, ist eine sehr problematische Entwicklung, die erst im Schlusskapitel etwas aufgelöst wird. Seine jüngere Schwester leidet an der Abkapselung des älteren Bruders, zu dem sie immer wieder eine emotionale Nähe sucht. Ihre Eifersucht und Wut auf den kleinen Bruder führen zu einer sehr große Distanz zwischen ihr und dem behinderten Bruder, woran auch die Unterbringung des kleinen Bruders in einem Pflegeheim in den letzten Jahren seiner Existenz nichts ändert. Dennoch sucht auch diese Schwester für sich und ihre Familie einen Weg in eine glücklichere Zukunft , auch mit dem behinderten Bruder. Die still leidenden Eltern, die sich ebenfalls um das behinderte Kind kümmern und es auf ihre Weise lieben, akzeptieren und würdigen die Vorrangstellung ihres ältesten Sohns in der Beziehung zu ihrem zweiten Sohn. Der ältere Bruder erscheint ihnen als Vorbild. Als sie nach dem Tod des behinderten Sohns noch einen letzten Sohn bekommen, kommt es zu Spannungen zwischen diesem Nachkömmling der Familie und dem älteren Bruder, der immer noch in seiner eigenen Welt lebt. Dieses spätgeborene Kind, das sich lange Zeit schuldbewusst als Ersatz für das gestorbene Kind betrachtet, sucht seinen eigenen Weg zu einer Beziehung mit dem verstorbenen behinderten Bruder und der Familie und erreicht so schließlich ein immer besseres Verständnis dieses Bruders und der Familie. Das Schlusskapitel ist kein klassisches Happyend, sondern nur ein relatives: Leidgeprüft scheinen alle Familienmitglieder sich mit sich selbst, den anderen Familienmitgliedern und der Realität zu versöhnen. Interessant ist die Erzählperspektive. Offenbar wird die Geschichte aus der Perspektive der Steine der Gebirgsregion erzählt, um die besondere Naturverbundenheit der Haupt-personen zu betonen. Es fällt auf, dass die Autorin die Hauptpersonen nicht mit Ei- gennamen benennt, sondern nur hinsichtlich ihres Familienstatus (la cadette, l’aîné, l’enfant, le dernier), womit sie wohl andeutet, dass das Schicksal dieser Familie für das Schicksal vieler anderer Familien steht. Eine durch Metaphern geprägte bildreiche Sprache sowie oft sehr einprägsame Formulierungen machen die Lektüre dieses Romans zu einem eindrucksvollen Literaturerlebnis, auch wenn manche Passagen vielleicht etwas zu lang geraten. Insgesamt ist dieser Roman sehr lesenwert, nicht nur, weil er oft verdrängte soziale und persönliche Probleme behandelt.