Patrick Modiano

Modiano wurde 1945 in Boulogne-Billancourt geboren, sein literarischer Lehrmeister war Raymond Queneau, der unter anderem der Autor von Zazie dans le métro war.
Seine Bücher drehen sich oft um die Stadt Paris und um Erinnerungen. Auch die Stadt Nizza spielt eine große Rolle (siehe Links). Seine Protagonisten sind dabei eher Skizzen, dem Leser bleibt viel Raum für Vorstellung. Man erfährt nichts, was nicht mit der Geschichte zu tun hat, das ist sehr interessant zu lesen. So ist auch selten sofort klar, wer der Gute und wer der Böse ist, man lernt sie nur anhand von minimalen Unterscheidungen in eine Kategorie einzuordnen, etwa dem Ton der Stimme, der oft eine besondere Bedeutung hat. Das kann Modiano sehr gut, wohl auch dank Queneau :wink:

1978 bekam er den Prix Goncourt für seinen Roman Rue des Boutiques Obscures. Auch in Deutschland erhielt er 2010 einen Preis, den Preis der SWR-Bestenliste, als bisher einziger Franzose.

Eines seiner Bücher ist Ein so junger Hund, das 1993 erschien:
Modiano ist ein Meister darin, seine Figuren nicht wie Helden wirken zu lassen, sondern wie normale Menschen, zu denen man als Erzähler und somit als Leser eine beobachtende Distanz wahrt. Er erzählt auch keine heldenhaften, ausßergewöhnlichen Geschichten, sondern die einfachen Geschichten, die einen Menschen bewegen können, wenn man sie im Alltagsleben nicht übersieht. Hier erzählt er die Geschichte eines Schriftstellers, der in einem Frühling in Paris fast dreißig Jahre zurückdenkt an eine kurze Zeit, in der er den Fotograf Francis Jansen traf. Ein Mann, der ein ungeheures, beiläufiges Talent hat. Er fotografiert einfach, weil er den Blick dafür hat, aber seine eigentliche Zeit als Fotograf sind vorbei und er fotografiert wie einer, den das Leben, den seine Geschichte gezeichnet hat. Einfach so, ohne Begeisterung, mit einem schlunzig behandelten Rest von Könnertum. Seine Werke hat er in großen Koffern gesammelt, einfach reingeworfen, mit einer kurzen Notiz auf den Bildrücken. Der Protagonist nun macht es sich selber zur Arbeit, sie für ihn zu ordnen. Dafür verbringt er Wochen im Atelier des Künstlers, der selbst kaum noch da ist und auf dem Weg ist, Frankreich Richtung Mexiko zu verlassen, weg von seinen Freunden, die zu verlieren er sich bemüht. Dem jungen Schriftsteller trägt er auf, sie am Telefon und an der Tür abzuwimmeln, doch dieser taucht immer weiter in die Geschichte des Fotografen, anhand seiner Fotos und den Teilen seines Lebens, die in der Gegenwart noch bleiben. Beide Geschichten vermischen sich und man fragt sich, ob das nicht wirklich so ist, dass sich Leben durch Details von Geschichten treffen und dann wieder trennen ohne dass man das bewusst wahrnimmt.
Sehr gut gemacht ist, wie sich der eigentliche Held, der keiner ist, Francis Jansen, durch ganz wenige Beobachtungsmomente des Schriftstellers selber charakterisiert. Das hier ist meine Lieblingsstelle:

Dieser Fotograf bleibt aber ein Unbekannter. Wie im echten Leben, in dem man Menschen trifft und deren Spur man verliert, weil Lebenswege sich trennen und sich nur einem einzigen Knoten in einem Erinnerungsnetz je getroffen haben. Und dann wird die Erinnerung ausgelöst, wenn die Frühlinge sich gleichen wie bei Modiano, und sich die Welt anfühlt wie damals.
Es ist ein ganz dünnes Buch mit 103 Seiten und kurzen Kapiteln. Und genau das ist es, was diesen Roman, von dem man bis zum Schluss nicht genau weiß, ob er autobiographisch ist, was man aber stark vermuten mag, so schön macht: Es ist eine Skizze aus Erinnerungen, die mit der Zeit verwischt wurden und wie Fotos nur ein Ausschnitt der Realität sind, die sich selber malen durch das, was sie sind. Ein sehr schönes, tiefsinniges Werk und eine Hymne an die Fotografie.
:arrow_right: Für einen Sommertag im Garten, eine kurze fiktive Reise nach Paris und in die unergründliche Welt der Fotografie.

Links
Ausführlicher Artikel der ZEIT
Das Nizza Modianos

Patrick Modiano hat den Nobelpreis für Literatur bekommen ! :fr:

Ich muss zugeben, dass ich noch nichts von ihm gelesen habe, obwohl ein paar Titel aus seiner Bibliographie mir bekannt sind. Wer kann/will seine Meinung über Modianos Werke teilen ?

Kurzes Proträt aus dem Standar

Ich höre den Namen heute zum ersten Mal. In Deutschland ist sein Werk zwar wohl ziemlich vollständig im Hanser-Verlag erschienen, aber trotzdem ziemlich unbekannt. Ich nehme an, dass sich das, wie bei vielen Literatur-Nobelpreisträgern der letzten Jahre, vielleicht ein wenig ändert. Er sieht ein bisschen aus wie der neue französische EU-Kommissar Pierre Moscovici.

spiegel.de/kultur/literatur/ … 96194.html

Genau, ist Patrick Modiano der neuste Nobelpreisträger für Literatur. ich auch habe kein Buch von ihm gelesen. Vermutlich ist er ein ausgezeichneter Schriftsteller…

Der Titel des Romans lautet « l’art de la mémoire » (die Kunst der Erinnerung). Das Hauptthema geht um die deutsche Besetzung Frankreichs während des Zweiten Weltkrieges. Manchmal habe ich den Eindruck, das ist unvermeidlich den Zweiten Weltkrieg unter dem NS-Deutschland, oder Hitler zu erwähnen, um einen Literaturpreis zu erhalten oder erfolgreich zu werden!!! « Die Wohlgesinnten », « Er ist wieder da » (zwar sehr humorvoll), jetzt, l’Art de la Mémoire und dann who’s next?
Ich weiß nicht, ob der Roman ins Deutsche übersetzt werden wird, und ich denke nicht, ich werde dieses Buch lesen… Meine Eltern haben den Zweiten Weltkrieg erlebt, meine mütterliche Großmutter war ins KL deportiert worden. Wirklich haben mein Vater und ich von diesen hunderttausend mal wiederholten Erzählungen über diese Zeit genug. Glücklicherweise sind wir noch nicht im Jahre 2040!!!. Seit langem trägt das heutige Böse nicht nur das Hakenkreuz.
Klar und selbstverständlich sind die Erinnerung und die heftige Verurteilung der Unmenschlichkeit des NS-Regimes erforderlich. Allerdings soll man auch auf die Grausamkeit und den Massenmord von Heute Wert legen, wenn auch es um literarisches Werk, hauptsächlich um einen Nobelpreis sich handelt,

Wir hatten schon einen Thread zu ihm, ich habe beide mal zusammengeführt.

Ich habe mich sehr gefreut, als ich die Nachricht um kurz nach 13 Uhr heute gehört habe. Wieder ein Franzose und wieder einer, der mich beeindruckt hatte. [i]Une Jeunesse/Eine Jugend /i hatte ich zuerst gelesen, es ist ein Roman über ein Paar im Paris der 1970er, das ziemlich dunkel dargestellt wird. Beide kommen ein wenig von der Spur ab in ihrem jungen Leben, aber zusammen heilen sie es, gewinnen es zurück.

Die Erinnerungskultur in Modianos Romanen wurde gelobt und da konnte ich sofort zustimmen. Leider habe ich heute auf Nachrichtenportalen zu viele dämliche Meinungen gelesen, von wegen, das sei wieder einer den man nicht kennt und eine politisch korrekte Entscheidung und unverdient (klares Urteil über jemanden, den man nicht mal kennt…) etc., aber Erinnerungskultur bei ihm betrifft nicht nur den Krieg, sondern allgemein das Erinnern an eine vergangene Zeit. An eine Jugend und eine stark veränderte Stadt wie bei Une Jeunesse, oder an eine außergewöhnliche Person, die man mal kannte, wie bei Chien de Printemps / Ein so junger Hund. Er schafft es, mit präzisen Worten und Szenen die Vergangenheit aufleben zu lassen, aber so, dass man sich nicht dorthin versetzt fühlt, sondern dass es weiterhin die Vergangenheit bleibt. Das finde ich irgendwie realer als die Art von Erinnerung, die historische Romane nutzen.

Ich hoffe es erscheinen demnächst viele Nachdrucke seiner Romane, damit ich ordentlich zugreifen kann und endlich auch jene kennenlerne, die längst vergriffen waren oder gar nicht erst in die örtliche Buchhandlung gelangten.

Wie viele meiner Landsleute hab ich bis jetzt noch keine einzige Zeile von Modiano gelesen . Und doch haben ihn manche mit Marcel Proust verglichen. Nicht schlecht , oder ?
Dagegen hab ich oft Interviews von Modiano gehört. Seltsam! Der Mann stottert , spricht seine Sätze niemals zu Ende .
Gestern hat der excellente Humorist François Morel ein fiktives Interview von Modiano gegeben . In der Rolle vom Schriftsteller , der Schauspieler Olivier Broche.

Gestern Abend wurde Modiano in den Nachrichten von France 2 vom Nachrichtensprecher Pujadas interviewt. Und selbst der Profi Pujadas hatte Probleme, das Interview in üblichen Bahnen zu halten. Ich habe zwar nicht alles verstanden, was Modiano gesagt hat, aber irgendwie hat er mir fast leid getan. Er ist auf jeden Fall jemand, der aus gutem Grund wenig Interviews gibt, und gestern kam er wohl nicht drum herum.
Das fiktive Jux-Interview mit Modiano bei „france inter“ war aber wohl, wenn ich es richtig verstanden habe, die Verarschung von jemandem, der sich „mündlich“ kaum wehren kann.

Klar , was man von einem Schrifsteller erwartet , ist , daß er sich schriftlich sehr gut ausdrückt , was , soviel ich weiß , der Fall ist. Daß es aber bei Modiano einen so großen Unterschied zwischen Mündlichem und Schriftlichem gibt , kommt mir ( aber auch vielen anderen ) sehr überraschend vor.
François Morel ist ein sehr feinfühliger kultivierter Mensch ; das Jux-Interview sollte man , meiner Meinung nach , nicht als ein Angriff empfinden .

„L’Art de la mémoire“ ist kein Buch von Modiano. es war die Schlagzeile eines Presseartikels gestern.

Die Art und Weise sich mit der Kriegszeit und deren Problemen auseinanderzusetzen macht jeder auf seine Art und seinen Kompetenzen entsprechend. Modiano wird sicher auch, wie alle Juden, einige Mitglieder seiner Familie in dem KZ verloren haben. Stört dieses Thema jemanden, soll er es eben ignorieren. Ich habe - noch - die Wahl ein Buch zu lesen oder nicht.

Es wird dann niemanden mehr geben, der über diese Zeit schreibt, wenn meine und die vorherige Generation nicht mehr am Leben sind. Wenn meine Enkel nicht mehr als „Sale boche“ betitelt werden wie es meine Kinder erleben mussten. Ich habe selbst einige blôde und verletzende Bemerkungen hören mûssen. Sowas geht ins Fleisch und bleibt tief sitzen. Ich sage nie dass ich Doppelstaatler bin, niemand hört es mir an dass ich nicht gebürtige Französin bin.

Massaker, Massenmorde und Gewalt aufgrund irgendeiner unvertretbaren Ideologie oder verrückten Hirngespinsts gibt es seit Jahrhunderten. Leider ist das die dunkle Seite des Menschens. Der Unterschied ist, dass man heute sehr schnell Bescheid weiss und niemand mehr sagen kann dass er davon keine Ahnung hatte. Und handelt - oder wenigstens versucht zu handeln.

@Michelmau: Modiano hat nicht immer gestottert oder seltsam gesprochen. Vielleicht lebt er deshalb von der Welt zurückgezogen. Die meisten Betroffenen leiden unter diesem Problem…

Siehe dazu die Rede Modianos zur Verleihung seines Preises. (2. und 3. Absätze)
bibliobs.nouvelobs.com/actualite … -2014.html