Dieser 2-fach preisgekrönte Roman von Karine Thuile(Prix Interallié 2019/Prix Goncourt des lycéens 2019) ist ein spannender und zeitkritischer Roman, der nicht nur im Zeichen des aktuellen Feminismus und der „ Me - too”-Bewegung ein sexuelles Fehlverhalten eines Studenten (Alexandre Farel) und die damit verbundenen juristischen, sozialen und psychologischen Folgen für die Klägerin(Mila Wizman), den Beklagten und die Familie des Beklagten darstellt, sondern problematisiert auch viele andere aktuelle Entwicklungen in unserer Gesellschaft, vor allem die Rolle der Medien (insbesondere der sozialen Medien) und ihr Einfluss auf die öffentliche Meinung , die politische Welt und das Denken und Leben des Individuums. Schicksalsschläge wie Krebserkrankunge, Alzheimer und andere Probleme älterer Menschen, Sterbehilfe, Arbeitslosigkeit, Eheprobleme und Scheidung , Erziehungsfragen, Rassismus, islamistische Aktivitäten und Mobbing werden oft ausführlich und multiperspektivisch erfasst. Männliche und weibliche Perspektiven werden hinterfragt, wobei auch existenzielle Fragen wie die Frage nach dem menschlichen Glück und die Frage nach der Dauerhaftigkeit von Liebesbeziehungen und dem Sinn des Lebens immer wieder und z. T. mit Bezügen auf Zitate aus der Welt der Literatur (Georges Bataille), Musik(Charles Aznavour) und Philosophie(Friedrich Nietzsche) angesprochen werden. Die handelnden Personen schwanken in ihrem Denken und in ihren Gefühlen, sodass auch scheinbar zu verurteilende Charaktere wie der alternde egoistische Starjournalist Jean Farel , der als Vater des der Vergewaltigung angeklagten Studenten z. T. versagt hat, durchaus auch moralisch positives Verhalten zeigen. So ist es Jean Farel, der sich trotz seiner eindeutigen menschlichen Unzulänglichkeiten oft in rührender Weise um seine langjährige Geliebte Françoise Merle kümmert, als diese an Alzheimer erkrankt und ihren Beruf als Journalistin nicht mehr ausüben kann. Es wird auch deutlich, dass Jean Farel unter seiner problematischen Kindheit (Ermordung der als Prostituierte arbeitenden Mutter durch den alkoholisierten kriminellen Vater) leidet und in seinem beruflichen Erfolg eine Kompensation zu diesem schwierigen Start ins Leben sieht. Auch die Mutter(Cécile Farel) des angeklagten Studenten ist geprägt durch eine problematische Kindheit, durch ihr Engagement für die feministische Bewegung sowie innere Widersprüche auf der Suche nach dem familiären und beruflichen Glück als Journalistin. Als sie sich schließlich von dem wesentlich älteren Jean Farel trennt und versucht, ihre außereheliche Beziehung zu dem unglücklich verheirateten jüdischen Lehrer Adam Wizman zu festigen, wird auch diesem Glückszustand durch den Prozess gegen ihren Sohn Alexandre ein brutales Ende gesetzt, weil Alexandre vorgeworfen wird, die Tochter von Adam Wizman(Mila Wizman) vergewaltigt zu haben. Alexandre, gedrängt von anderen Studenten,hatte im Rahmen eines moralisch unzulässigen Studentenstreichs (Bizutage) einen sexuellen Kontakt zu Mila, die er eigentlich eher als mögliche Partnerin ablehnte. Vor dem Prozess, während des Prozesses und nach dem Urteil (5 Jahre Gefängnis/ Bewährungsstrafe) stehen die Aussagen von Mila und ihrer Unterstützer im Gegensatz zu der Version Alexandres und dem ihm freundlich gesinnten Umfeld. Dabei wird sehr deutlich, dass es 2 verschiedene Versionen dieses sexuellen Übergriffs geben kann. Nicht nur Mila erscheint als bedauerns-wertes Opfer, sondern auch der bisher sehr erfolgreiche Student Alexandre, dessen berufliche Existenz vernichtet wird und der sich einer allgemeinen gesellschaftlichen Verachtung ausgesetzt sieht. Alexandre erkennt erst lange nach dem sexuellen Übergriff, wenigstens ansatzweise, das Leid des Opfers Mila, das im Rahmen ihrer Persönlichkeit und ihres religiösen Umfelds in ergreifender Weise geschildert wird. Die Problematik des sexuellen Kontakts in beiderseitigem Einvernehmen(Version Alexandres) trennt die Welt Milas(kein Widerstand vor allem aus Angst vor einem vermeintlich vorhandenen Messer Alexandres) von der anderen Welt des sexuell freizügigeren Alexandre, dessen Persönlichkeit (wie auch die Milas) während des Prozesses in einer z. T. fragwürdigen und vom Druck der Medien bestimmten Form analysiert wird. Thematisiert wird auch eine unglückliche Liebes-beziehung Alexandres zu einer wesentlich älteren Karrierefrau(Yasmina Vasseur), die mit Hilfe von Jean Farel und ohne Wissen Alexandres eine nicht legale Abtreibung vorgenommen hat und sich von Alexandre trennte, um ihre Karriere nicht zu gefährden. Im Prozess sagt sie aus, dass sie angesichts des Drängens Alexandres, die Beziehung fortzusetzen, eine völlig unberechtigte Klage wegen sexueller Belästigung eingereicht habe. Sie schildert den in sie verliebten Alexandre, der lange unter dieser Beendigung seiner Beziehung zu ihr litt, als sensiblen Studenten. Sowohl Cécile Farel als auch ihr Ex-Ehemann Jean Farel, der nach seiner von Cécile eingereichten Scheidung mit einer wesentlich jüngeren Frau (Quitterel Valois) verheiratet ist und mit ihr eine gemeinsame Tochter hat, unterstützen ihren Sohn während des Prozesses, obwohl die überzeugte Feministin Cécile an der Unschuld ihres Sohns zweifelt. Alexandre erscheint als von seinen Eltern lange Zeit vernachlässigter Sohn , der nicht nur in seiner Kindheit viele psychologische Probleme hatte. Das ihm von seinen Eltern aufgedrängte Streben nach Perfektion in Schule und Universität, Ein-samkeit, ein Selbstmordversuch und andere existenzielle Fragen prägten das Leben Alexandres vor dem sexuellen Übergriff. Sowohl Cécile als auch Jean Farel erscheinen auch als karriereorientierte Vertreter einer bürgerlichen Elite, die die Fassade des Glücks und Erfolgs trotz ihrer inneren Zerrissenheit gegenüber der Außenwelt aufrecht erhalten will, wobei der von dem stolzen Vater Jean Farel ausgehende Leistungsdruck von ihm immer wieder auch als Kompensation für seine eigene unglückliche Kindheit zu verstehen ist. Die innere Zerrissenheit des Starjournalisten, der nicht nur persönlich, sondern auch beruflich (vorübergehende Entlassung) unter dem Prozess leidet, obwohl er nach einer von ihm gesteuerten Intrige seine Wiedereinstellung erreicht , wird auch an seinem gescheiterten Selbstmordversuch deutlich. Als er sich angesichts seiner todkranken Ex-Geliebten Françoise aus Verzweiflung töten will, erhält er eine Nachricht von seiner jungen Frau Quitterie, die ihm deutlich macht, dass seine Familie und Alexandre ihn brauchen. Trotz seines fehlenden Universitätsabschlusses gründet der Polytechniker Alexandre nach dem Urteil in den USA ein sehr erfolgreiches Start-up-Unternehmen, das virtuelle Kontakte zwischen Männern und Frauen vermittelt, die sich vertraglich bestimmte Verhaltensweisen auch im sexuellen Bereich zusichern. Der erfolgreiche Geschäftsmann Alexandre hat seine innere Zerrissenheit nicht überwunden. Insgesamt gesehen ist dieser Roman eine deutliche Kritik am Missbrauch moderner Medien und lässt eine z. T. pessimistische Perspektive auf die menschliche Existenz erkennen. Geburt und Tod erscheinen im von Cécile geprägten Schlussteil als Lebensetappen, zwischen denen Zufälle, meist nicht dauerhafte Liebesbeziehungen und andere Schicksalsschläge das Leben bestimmen und damit das brüchige menschliche Glück, wobei die menschliche Sexualität oft das Leben dominiert. Dennoch ist der Roman lesenswert, weil er in einer multiperspektivischen Form zum Nachdenken über Probleme und Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft anregt. Die deutliche Kritik an der „Me-too”-Bewegung ist ebenfalls hervorzuheben.