In diesem 2023 erschienenen und z. T. autobiographischen Roman analysiert Aurélie Valognes die Entwicklung der Beziehung einer alleinerziehenden Mutter (Gabrielle) und ihrer Tochter (Lili),wobei die Autorin ständig die Perspektive wechselt in Form von Monologen von Mutter und Tochter, um diese Beziehung besonders genau zu erfassen. Die aus prekären Verhältnissen stammende Mutter ist von ihrem Partner lange vor der Geburt verlassen worden, ohne dass dieser von seiner Vaterschaft wusste und ohne dass die werdende Mutter an einer dauerhaften Partnerschaft interes-siert war. Gabrielle konzentriert sich ganz auf ihre geliebte Tochter und verzichtet auf andere engere persönliche Kontakte. Das ausgeprägte harmonische Verhältnis zwischen Mutter und Tochter erfährt erste Risse, als die schulisch gescheiterte Mutter mit dem schulischen Erfolg ihrer ehrgeizigen und begabten Tochter konfrontiert wird, die als isolier-te Außenseiterin ein zunehmendes Bedürfnis nach Freiheit und Eman-zipation entwickelt. Mit Hilfe eines Stipendiums kann Lili versuchen, auch im akademischen Bereich Erfolge anzustreben. Sie stößt jedoch bald auf geistige und soziale Schranken sowie auf Vorurteile und Verachtung seitens von begüterten Kommilitonen und von Dozenten,die eine völlig andere Sozialisation erlebt haben als Lili. Trotz leidvoller Erfahrungen und nach einer Korrektur ihrer universitären Lauf-bahn setzt Lili ihren universitären Weg verbissen fort und kann schließlich in einer Luxusfirma Karriere ma-chen, wobei sie sich emotional und räumlich immer mehr von ihrer enttäuschten Mutter entfernt. Als emanzipierte Karrierefrau verzichtet sie auch nach der Heirat mit einem aus begüterten Kreisen stam-menden Geschäftsmann und nach der Geburt ihrer Tochter trotz heftiger Kritik Gabrielles nicht auf eine intensive berufliche Aktivität. Erst nach dem Schlag-anfall ihrer Mutter nähert sich Lili wieder ihrer Mutter an, kümmert sich intensiv um sie und schenkt ihr ein Haus in der Bretagne. Die künstlerisch begabte Lili gibt ihr berufliches Leben voller Stress auf und zieht mit ihrer Familie ebenfalls in die Bretagne um, um sich nur noch im Rückgriff auf positive frühkindliche Erfahrungen ihrer Begabung als Malerin zu widmen. Als Malerin hat Lili schließlich auch geschäftlichen Erfolg und kann sich endlich selbst verwirklichen. Ihr ist klar geworden, dass sie lange Zeit ein falsches Verständnis von Glück und Freiheit hatte und sich in dem von ihr erreichten höheren sozialen Milieu nicht wohl fühlte. Mutter und Tochter verzeihen sich gegenseitig ihre Fehleinschätzungen hinsichtlich ihrer Beziehung.
Dieser Roman ist oft spannend und gibt in mancher Hinsicht die typischen Erfahrungen von Müttern und ihren sich emanzipierenden Kindern wieder. Eindrucksvoll und sehr realistisch ist auch die Analyse von sozialen und psycholo-gischen Schranken und Vorurteilen nicht nur im universitären Bereich. Dabei wird sehr deutlich, dass diese Schranken gemäß den Thesen des Soziologen Bourdieu auch sozialisationsbedingt sind. Dennoch bleibt anzumerken, dass der Lebenslauf von Lili und ihrer Mutter nicht in allen Aspekten der Lebenswirklichkeit entspricht, was vor allem für das Happy-End gilt. Insgesamt gesehen ist der Roman sehr lesenswert und regt zum Nachdenken über Glück, Karriere, Familie und gesellschaftliche Schranken an.