L’archipel français ist ein sehr spannendes und hochinteressantes Essay aus dem Jahr 2019 vom Politikwissenschaftler Jérôme Fourquet. Wie der Untertitel es andeutet («naissance d’une nation multiple et divisée») geht es um die immer grössere Teilung der französischen Gesellschaft in kleine Bevölkerungsgruppen (Inseln), die immer weniger Gemeinsames haben und immer weniger in Kontakt zueinander treten. Es ist zwar nicht neu, dass Frankreich (wie alle Staaten) geteilt ist, denn es hat in Frankreich immer beispielsweise Bretonen und Korsen, Reichen und Armen, Bauern und Arbeiter gegeben. Aber seit den 1960er Jahren stellt Fourquet fest, dass das Element, das grundsätzlich alle Franzosen gemeinsam hatten, verschwindet. Und dieses Element heisst : Katholizismus. Schon lange sind die Gläubigen und noch mehr die Kirchgänger in Frankreich am Aussterben, aber in allen Bevölkerungsgruppen wurde die katholische Weltanschauung aufrechterhalten. Und genau das hat sich geändert.
Anhand von vielen Statistiken, Umfragen und Karten zeigt Fourquet, wie der Katholizismus quasi komplett aus den Köpfen verschwunden ist und welche Gruppen sich jetzt in der französischen Gesellschaft bilden sowie auf welcher Basis sie jeweils einen eigenen Lebensstil und eigene Werte aufbauen. Besonders spannend : Fourquet nimmt als Beispiel die Vornamen, wie ein roter Faden im ganzen Buch. Er hat nämlich die Liste der jährlich den Neugeborenen gegebenen Vornamen analysiert und das ist besonders vielsagend !
Im ersten Teil erklärt Fourquet, wie der Katholizismus die Franzosen verloren hat. Das beste Beweis dafür : 1900 wurden 20% der Mädchen « Marie » benannt ; 2016 waren es nur noch 0,3%. Andere Beweise sind die Vervielfältigung der Vornamen, die nur wenig aus dem traditionell katholischen Vornamenkontingent stammen. Aber auch natürlich eine grössere Toleranz, oder sogar eine völlige Akzeptanz für Abtreibung, Homosexualität, Einäscherung, Tattoos usw. Alles, was der Katholizismus eigentlich untersagt.
Der zweite Teil beschreibt die Gruppenbildung innerhalb der französischen Gesellschaft, und wodurch sich jede Gruppe kennzeichnet. Die Elite (reich und mit Hochschulabschluss) beansprucht die Stadtzentren und bestimmte Vorstädte quasi für sich allein, schickt die Kinder in Privatschulen, legt Wert auf Internationalität usw. Auf der anderen Seite schottet sich die niedrige Schicht von der pariser elitärer Kultur ab, wählt Protestparteien (wenn sie überhaupt wählen) und nennt ihre Kinder mit englisch-amerikanischen Vornamen aus irgendwelchem TV-show. Besonders faszinierend : die Karte der Départements nach Neugeborenen mit englisch-amerikanischen Vornamen im Jahre 1993 entspricht fast genau der Karte der Le Pen-Wähler 2017, also eine Generation später… Auf einer kulturellen Basis bilden sich andere Gruppen, wie die Korsen, die ein kulturelles revival erleben, aber natürlich auch die arabisch-muslimische Bevölkerung, in der ein Teil immer strenger nach muslimischen Regeln lebt. Je jünger die Muslime, desto wichtiger ist die Jungfräulichkeit der Frau, das Nicht-konsumieren von Alkohol oder die Ehe mit einem_er Partner_in mit demselben ethno-religiösen Hintergrund. Auch geographisch bilden sich Inseln, nämlich die weltberühmten Problemviertel mancher Vorstädte. Anhand von Karten wird das besonders ersichtlich : grössere Armut im Vergleich zu den benachbarten Vierteln, höhere Kriminalität, grösserer Anteil arabisch-muslimischer Bevölkerung, besondere Wahlergebnisse (zugunsten Mélenchon) usw.
Der dritte Teil ist für nicht-Franzosen vielleicht weniger interessant. Er behandelt die politischen Folgen dieser immer deutlicheren Teilung, und zwar anhand der Ergebnisse der Präsidentschaftswahl von 2017. 2017 sei das dritte grosse gesellschaftliche Erdbeben. 1983 wurden die Franzosen bewusst, dass eine beachtliche arabische Bevölkerung jetzt und fix in Frankreich lebt («marche des beurs», friedliche Demo) und die Front National erlebte erste Erfolge bei Wahlen. 2005 verlor die Elite die Volksabstimmung über die EU-Verfassung und verstand, dass eine Kluft sie vom Volk trennt ; die Banlieues gingen in Flammen auf und Frankreich wurde sich dem Problem bewusst. 2017 stürtzte das ganze Parteisystem ab : Macron der junge Unbekannte aus einer ganz neuen Partei gewann und Le Pen wurde zweite. Links und Rechts gibt es nicht mehr. Es ist jetzt die globalisierten Franzosen aus den attraktiven Städten/Regionen gegen die Ausgestossenen aus wirtschaftlich herabgekommenen Gebieten.
Macron punktet bei den Franzosen mit hohem Schulabschluss, mit dem Gefühl, besser zu leben als die eigenen Eltern, in Ballungsräumen mit wenig Arbeitslosigkeit, in den Stadtzentren : je weiter man sich von einem Stadtzentrum entfernt, desto höher wird Le Pens Ergebnis (manchmal erstaunlich mechanisch : in Lille verliert Macron 1 Prozentpunkt pro km Entfernung vom Zentrum)
Es entwickelt sich also eine neue politische Landschaft, die auch die traditionelle geographische Verteilung der Wähler neu definiert. Fourquet erläutert das mit vielen interessanten Karten und sozio-ökonomischen Daten wie im Département Hérault, in dem Macron im Grossraum Montpellier gewinnt, Le Pen in den Gemeinden unter 200m Höhe (geprägt von in Krise geratener Weinbaukultur) und Mélenchon in den höheren Gemeinden (weniger von der Krise betroffen, behalten ihre traditionelle linke Neigung).
Das Essay ist sehr gut recherchiert und die Daten besonders klar und leserlich dargestellt. Viele Grafiken, Tabellen und vor allem Karten erleichtern die Verdauung von den vielen Statistiken und machen die Entwicklung Frankreichs sehr deutlich. Das Buch ist also sehr angenehm zu lesen, besonders verstänlich und inhaltlich spannend. Eine Pflichtlektüre, um das heutige Frankreich zu verstehen… sowie die Zukunft anderer europäischer Gesellschaften, denn ähnliche Entwicklungen zeichnen sich vielerorts ab…