Jean Teulé: Mangez-le si vous voulez!

Jean Teulé
Freßt ihn, wenn Ihr wollt (Mangez-le si vous voulez!)(Verlag Julliard)

Hab gerade ein kleines geniales Buch von Jean Teulé fertig gelesen.
Jean Teulé erzählt uns meisterhaft eine wahre Geschichte.
Die Szene spielt im Dorf Bertranges (Périgord) , nicht im Mittelalter, sondern im Sommer 1870. Eine furchtbare Hitzewelle herrscht, Weiher, Flüsse und Bäche sind ganz trocken, eine katastrophale Ernte ist in Sicht und das Vieh , das keine Futter mehr zu fressen hat, verreckt allmählich…Und der Krieg zwischen Preußen und Frankreich scheint kein Ende nehmen zu wollen.
Der Held, Alain de Moneys, ein junger Gemeinderat, immer hilfsbereit,von allen im Dorf geliebt und geschätzt begibt sich an jenem Tage nach Hautefaye, wo der Jahrmarkt wie üblich stattfinden soll. Sechshundert, vielleicht siebenhundert Bauern, Handwerker ( Hufschmiede, Lumpensammler, Viehhändler) sind gekommen.
Man versammelt sich auf dem Hauptplatz, und wer ein bißchen lesen kann, liest den anderen Artikel aus « L’écho de la Dordogne », dem lokalen Tageblatt vor. Maillard , de Moneys Cousin liest die neuesten Nachrichten vom Krieg vor und es heißt ,daß die militärische Lage den Franzosen nicht besonders günstig ist, In Reichshoffen hätten die Preußen sogar gesiegt,
Die « braven Leute » drumherum trauen ihren Ohren noch kaum, Wie kann sowas möglich sein?
Einer ruft : « Maillard hat gesagt, es lebe Preußen! Er hat’s gesagt, ich könnte es schwören! »
De Moneys ruft ihm zu: « Es ist falsch, ich stand dicht bei ihm, und hab alles gehört, niemals hat er so etwas gesagt! ,Warum denn nicht ; nieder mit Frankreich? »
« Habt ihr gehört, was de Moneys gesagt hat ? Er hat gesagt; nieder mit Frankreich! »
« Ja, ich hab’s auch gehört », sagt einer, « Ich auch « , sagt ein anderer! Bald sollen es Hunderte von Menschen gehört haben,
Von nun an fängt für de Moneys der Abstieg in die Hölle an, Er wird von der drohenden Menschenmasse gefaßt, zu Boden gerissen, zertrampelt, bekommt Fußtritte ins Gesicht, Fausthiebe, Stiche mit einer Heugabel, Er wird in die Werkstatt eines Hufschmieds geschleppt, wo er wie ein Pferd mit Eisen beschlagen wird, ihm werden Zehen mit einer Zange gerissen und alle grölen um ihn: « Er ist Preuße! Er muß leiden! »
Einige Freunde von de Moneys versuchen ihren Freund zu verteidigen: « Er ist kein Preuße, ihr kennt ihn alle, er hat manchen von Euch geholfen,usw, »
Die Marter wird lange Stunden dauern, bis der wein- und blutberauschte Mob ihn endlich mit Holz bedeckt und verbrennt,
Im folgenden Winter findet ein Prozeß statt, Keiner der Angeklagten ist imstande sein Benehmen zu erklären, Wie hab’ich einen immer hilfsbereiten, netten Freund in so grausamer Weise behandeln können? Was ist mir damals eingefallen? Ich muß eine Bestie sein,usw, So reagieren die meisten Angeklagten!

Eine , meiner Meinung nach, sehr gute Lehre über Dummheit, Feigheit der einen und Courage der anderen,
Jean Teulés Feder wirkt so präzise wie das Seziermesser eines Chirurgs,
Das Buch wurde erst vor kurzer Zeit veröffentlicht und ist wahrscheinlich noch nicht übertsetzt worden!Hoffentlich wird’s bald!

:astonished: Und das ist wirklich eine wahre Geschichte :open_mouth: :confused:

Und wie! :frowning:

Ich habe neulich die Rezension in der « Canard enchaîné » gelesen! Kaum zu fassen! :astonished:

Ich habe noch einen Artikel aus „dem Spiegel“ von 1992 gefunden, der sich mit demselben Thema beschäftigt - aus Anlass einer anderen Veröffentlichung, nämlich jener eines Historikers namens Corbin:

Diese Massenphänomene sind unergründlich. Die deutsche Geschichte liefert da die grausamsten Beispiele. Zuletzt haben mich persönlich die Verwicklungen von Menschen in die Auseinandersetzungen im ehem. Yugoslawien schockiert, wie in einmal funktionierenden Dorfgemeinschaften Haß und Mordlust eingezogen sind. Man hat immer die Vorstellung, oder besser den Wunsch, Menschen die charakterlich so tief hinabsinken seinen eben nur ein ganz bestimmter Typus von Mensch… aber ehrlich gesagt bin ich mir da schon lange nicht mehr sicher… :unamused:

Auch in Polen gibt es ein Beispiel: http://www1.yadvashem.org/about_yad/magazine/data5/jedwabne.html

Und dann erinnern wir uns noch an die Massaker in Ruanda, als die Hutus und die Tootsies übereinander herfielen…

p.s. warum klappt das nicht mit den links? Was mache ich falsch?

Anmerkung modcristo : Deine URLs sind unvollständig:
Beim ersten Link fehlt

www.

beim zweiten

http://

:wink:

:merci:

Und wir- wären wir wirklich besser???
Für uns politisch korrekte Außenstehende in gesicherten Verhältnissen sind derartige Begebenheiten, die sich zu allen Zeiten und an allen Orten der Welt zutragen haben und weiter geschehen werden, immer unfassbar und ekelhaft.

Man sollte aber mal versuchen, sich in die Situationen zu versetzen, die zu solchen Exzessen führen. Michelmau hat in seinem Beispiel die Stimmung der Dorfbevölkerung im Sommer 1870 ja sehr gut beschrieben. Durch Dürre, Hitze und Krieg zermürbt, in ihrer Lebensgrundlage als Individuum und als Nation bedroht und ohne Hoffnung auf kurzfristige Besserung der Lage, liegen die Nerven bei allen blank. Dazu glauben die Leute, mit der Ermordung des vermeintlichen Feindes im Recht zu sein und dem Kaiser einen Dienst zu erweisen. Eine gefährlichere Gefühlslage kann ich mir gar nicht vorstellen. Wenn dann noch ein Rädelsführer das Kommando übernimmt und die bisherigen Autoritäten ängstlich verstummen, kommt ganz schnell unter der dünnen Schicht von Kultiviertheit der Wolf im Menschen zum Vorschein.

Wer von uns kennt sich denn so gut, dass er ernstlich von sich behaupten könnte, er sei unempfindlich gegenüber derartigen Massenpsychosen? Wie kann man der Mehrheit widerstehen und seinen Verstand, Mut und Moral so stark machen, dass man sich auch in emotional aufgeheizten, schwierigen Situationen nicht wie die anderen von seinen niederen Trieben überwältigen lässt? Ich befürchte, wer noch nie in eine solche Situation geraten ist, weiß nicht, zu was er alles (nicht!) fähig ist. :confused:

Danke für den Lesetipp, michelmau!

Hier, was Theodor W. Adorno sagt über Gruppenverhalten im Sportbereich. Interessant.

http://www.youtube.com/watch?v=ppNqwtfLJDk&feature=related

:wink:

Ich hoff der Adorno will mir jetzt nicht unterstellen dass ich fremdenfeindlich bin nur weil ich meinem Land die Daumen drücke wenn es angemessen Fußball spielt. Ich glaub er begeht hier denselben Irrtum wie alle sportskeptiker: Nur weil 10% Volldioten drunter sind, sind nicht gleich die ganzen 100% Idioten. Aber ich muss zugeben der Adorno war bei weitem schlauer als ich es bin…

:astonished:
Grauenhaft, diese Geschichte!

Apropos Teulé. Im Französischkurs wurde gestern beschlossen - ich war nicht ganz unbeteiligt - dass das Buch Le Magasin des Suicides von eben diesem Jean Teulé gelesen wird. Nun, warum auch nicht :smiley:
Ich hoffe das sich das Buch genauso unterhaltsam lesen lässt wie die Kurzbeschreibung von unserer Professeur :wink: Gibt es unter uns jemanden, der sich damit schon mal beschäftigt hat ?

Jean Teulé unterhält sich hier mit Schülern eines Lycée agricole in Château- Chinon über sein Buch; „Le magasin des suicides.“
Hab das Buch bis jetzt noch nicht gelesen aber viel davon gehört. Kann sowieso keinesfalls langweilig sein.

:wink: