Guillaume Apollinaire

Es gibt Leute, die denken, wenn sie den Namen hören, an Mineralwasser, aber es gibt auch solche, die an einen fabelhaften Dichter denken, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts moderner war als es heute noch irgendein Dichter sein könnte.

Apollinaire wurde 1880 in Rom geboren, wuchs aber teilweise in Monaco auf. Als junger Mann tingelte er durch Europa und arbeitete unter anderem als Sprachlehrer, Ghostwriter und Bankangesteller. Währendessen schrieb er literarische Texte, hauptsächlich Gedichte. Mit der Zeit konnte er wichtige Kontakte zu Leuten der Kunst knüpfen, darunter Picasso und Alfred Jarry, was es ihm ermöglichte, seine eigenen Werke zu veröffentlichen. 1910 erschien zunächst ein Sammelband mit Erzählungen, 1912 folgte der erste Gedichtband. Alcools ist noch heute das Referenzwerk Apollinaires. Das Leitthema ist hier das Gefühl des Rausches, den die Neuerungen der Moderne hervorrufen. Das Erleben von Stadt, Fortschritt, Geschwindigkeit, Industrie, die zu einem Ideal erhoben werden und damit das Gefühl der Belle Époque ausdrücken. Der Titel verkörpert es nur zu gut. Das Ziel Apolliaires war es, auch in den Gedichten selber durch ihre Form eine Bewusstseins- und Realitätserweiterung darzustellen. Die Vergangenheit wird ohne Reue verabschiedet, etwa im ersten Gedicht, „Zone“:

Es ist Absicht, dass die ersten Verse zweizeilig sind, Apolliaire verstand darin eine Befreiung der Worte, wenn sie nicht mehr an lyrische Vorgaben zur Gestaltung gebunden sind und auch nicht mehr an Zeichensetzung.

Diese Art von optischer Gestaltung verdeutlichte sich in seiner Sammlung von Bildgedichten, den Calligrammes, die posthum 1918 veröffentlicht worden sind. Damit macht er aus dem Blatt Papier endgültig eine Leinwand; er gießt Gefühle, Momente, Geschichten durch die Anordnung von Worten in eine Form, die es ihm möglich macht, Bewegungen darzustellen. Etwa die des Regens in „Il pleut“ („Es regnet“) oder in „La petite auto“ („Das kleine Auto“). Er schafft eine Art von Landschaft, die seine persönliche innere Landschaft wiedergibt. Die Kalligramme werden so zu einzigartigen und faszinierenden Kunstwerken, die ganz anders wirken als einfache Gedichte in typischer Form, nämlich eher orientiert an dem asiatischen Modell der Schriftzeichen, die Dinge und nicht Silben repräsentieren.

Die Calligrammes sind ein bisschen mein Lieblingswerk der Belle Époque, weil sie alles repräsentieren, wo für diese Zeit steht: Sie sind spannend und dynamisch gestaltet, emotional und treffend im Inhalt und auch zeitlich alles umfassend: Das Hochgefühl kommt vor ebenso wie die plötzliche Angst vor der Vergänglichkeit in Anbetracht des drohenden Krieges, den die französischen Dichter anders als die italienischen Futuristen jener Zeit nicht herbeisehnen.
Das Verhältnis zur Zeit ist eines der wichtigsten Themen. Apollinaire wollte sie in den Gedichten erfassen, und zwar Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig. Er wünscht sich dadurch eine gewisse Zeitlosigkeit, ein Schweben im Raum, fast wie in Märchen und Fantastik. Die Simultanität, die dafür notwendig ist, repräsentiert ihrerseits wieder den größten Rausch des 20. Jahrhunderts, den der Geschwindigkeit. Anders als andere Dichter der Zeit lässt Apolliaire aber nicht alle Dinge der Vergangenheit bedingungslos gehen, persönliche Empfindungen und Beziehungen stehen immer noch über dem Streben nach Fortschritt und dem Sich-treiben-lassen auf der Welle der Zeit, was auf die Bedrohung des Krieges zurückzuführen ist, den die Völker spürten.

Zwei Beispiele von Kalligrammen, die all das umfassen:
Il pleut

Dargestellt ist zwar der echte Regen, gemeint im Inhalt ist ein Regen der Erinnerung und der Trauer. „Es regnet Stimmen von Frauen als wären sie selbst in der Erinnerung tot. Es regnet auch euch, wundervolle Begegnungen meines Lebens…“ Der Regen verwischt die Spuren der Landschaft und hier auch die der Landschaft der Erinnerungen, während Erinnerungsfäden in Form von Regenfäden am Fenster hinunterfließen, vor dem man steht und nur zusehen kann, wie alles entschwindet.

La petite auto:

Ein interessantes aber bisher ungelöstes Detail ist es, wieso Apollinaire ein falsches Datum des Kriegsbeginns nennt; der Abend davor war nicht der 31. August, sondern der 31. Juli. Das Auto, welches zu einem Symbol der Belle Époque geworden ist, zu einem Star der Moderne (was es noch heute ist), ist hier auch das Vehikel, das den Übergang von einer Zeit in eine andere darstellen soll, in eine dunkle. Das Auto an sich verändert die Dimension der Landschaft, in dem es das Verhältnis von Zeit zu Raum verändert und Geschwindigkeit selbstverständlich macht. Hier nun trägt es die Reisenden in den Krieg hinein, lässt sie wehmütig zurückblicken und unausweichlich nach vorn.

1916 wurde Guillaume Apollinaire im Krieg am Kopf verletzt und erholte sich nicht mehr vollständig. 1918 starb er an der Spanischen Grippe, 38-jährig.

Links
Wikipedia-Eintrag (deutsch)
Eine ihm gewidmete Internetseite
Einige Calligrammes
Calligrammes-Sammlung mit englischem Begleittext
Alcools als vollständige Ausgabe