Ich möchte hier ein Buch vorstellen, das…
… sich gut zusammen mit einem Kind lesen lässt
… zutiefst französisch ist
… und sich für ein paar schöne Lesestunden im Garten eignet.
Victor Beauregard ist neun Jahre alt und wohnt in Bourg-en-Bresse mit seinen zwei Müttern: Seiner richtigen und deren Lebensgefährtin. Seine Mutter hat sich von seinem Vater getrennt, weil dieser « nicht erwachsen werden will », wie sie sagt. So verbringt er auch diesen Sommer wieder ohne Papa, dafür aber mit seiner pubertierenden Schwester an der Côte d’Azur in einem Appartement, das der toten Schwester des Vaters gehört hat. Und dieser Sommer wird für Victor unvergesslich. Er kommt dem Geheimnis seiner Tante auf die Spur und macht so einige wahrhaftig magische Begegnungen: Mit Glühwürmchen, Schmetterlingen, rätselhaften Zwillingen, die Angst vor dem Wasser haben, und auch mit der zauberhaften Justine.
Sehr französisch kommt dieser Roman daher und suhlt sich in dem Genuss der Behäbigkeit des Sommerurlaubs, der wichtigsten Wochen des Jahres. Dazu eine Prise Côte d’Azur, ein bisschen Amour und Kultur et voilà: fertig ist das Gerüst. Auf diesem tummeln sich eine Reihe von Personen, die mit wenigen Worten aus dem Munde eines Kindes gut gezeichnet sind: Die pubertierende Schwester Alicia, die modern, keck und doch so zerbrechlich ist und sich nach einer heilen Familie sehnt. Eine Baronin, die die große Geschichte der mondänen Küste repräsentiert und Victor zur tragischen Geschichte seiner Familie führt. Justine, die strahlende erste kleine Liebe. Die immer lesende Mutter, die bedauert, dass ihr Ex-Mann nicht erwachsen werden will. Und schließlich Pilar - ihre Lebensgefährtin.
Permanent begegnen einem Symbole, die man als solche erkennen, aber nicht ohne weiteres entschlüsseln kann. Ein Gewitter kündigt Spannung und Entladung an - die Familie formiert sich neu. Vor allem aber sind es die Tiere, die hier Symbole sind. Schmetterlinge stehen für Wandlung, die Seele und für Auferstehung. Alles passt auf die Geschichte. Victor scheint die Schmetterlinge magisch anzuziehen, die schönsten und die buntesten. Und Pilar hasst sie, wohl ahnend, dass die Veränderung zu ihren Lasten gehen wird. Aber vor allem die Glühwürmchen sollen strahlen. Diese seltenen, magischen Tierchen, die in diesem Sommer erstmals wieder an der Küste zu sehen sind. Allein das schon kündigt etwas Großes an. Glühwürmchen können die Bedeutung von lebenden Seelen der Verstorbenen haben (laut Wikipedia). Dies passt, denkt man an die rätselhaften Zwillinge und die verstorbene Tante Felicité. Etwas unpassend ist, dass es hier um die Geschichte des Vaters geht, er selber aber nicht nur fast nicht auftaucht, sondern von allen Charakteren am schwächsten ist. Und auch, dass die Kenntnis dieser Symbolik vom Autor vorausgesetzt wird, um den Spannungsbogen richtig zu verstehen.
Unweigerlich fragt man sich auch, ob hier die Stimme eines neunjährigen Jungen gut getroffen ist. Es geht in diesem Buch, einer kleinen magischen Abenteuer- und Familiengeschichte, nicht um eine Abbildung der Realität, sondern um eine Interpretation dieser. Victor ist gut getroffen und glaubwürdig, aber natürlich nicht in jeder Hinsicht ein Neunjähriger. Sondern ein Neunjähriger, den sich ein erwachsener Autor für sein erwachsenes Publikum ausgedacht hat und er hat es gut gemacht. Gut, aber nicht sehr gut. Man erwartet, dass etwas Großes passiert, etwas Überraschendes oder Erschütterndes. Bis zum Schluss aber plätschert der Roman dahin. Wenn man sich dieses Buch aber von Anfang an als Kinderbuch (für etwas ältere Kinder) denkt, macht es großen Spaß und nimmt einen mit auf die Reise ans Meer und in den Sommer.
Bloomsbury 2015, 224 Seiten