Der Februar kommt in manchen Regionen ja geradezu frühlingshaft herüber. Wer denkt da nicht an Urlaub, auch wenn es noch Monate hin ist? Richtig: niemand. Also habe ich auch mal wieder was gegoogelt und mich dabei in Vorfreude auf das Unbekannte gesuhlt. Als ich mich in das Val d‘Oise eingearbeitet hatte, stieß ich auf einen Artikel über den Tourismus in Senlis. Das kleine Bilderbuchstädtchen unweit von Paris zieht seit jeher Touristen an und war bereits in zahlreichen Filmen zu sehen, etwa in „Séraphine“ über die gleichnamige Malerin, die hier bis in die 1940er Jahre gelebt hat. Der Artikel aber drehte sich darum, dass der Tourismus dort seit den Anschlägen von 2015 gelitten hat. Dafür jedoch verzeichnete das Office de Tourisme einen Anstieg der Besucherzahlen auf seiner Homepage um 2,8%. Daraus schloss man, dass man die „visites virtuellles“ ausbauen müsse: Digitale Stadtrundgänge und Dia-Shows zum Beispiel, um so aus diesen virtuellen Besuchen wieder reale zu machen. Ich, in meinem ganzen Konservativismus der Generation vor den digital natives dachte mir nur: Eine Schande, wie weit es gekommen ist mit der Gesellschaft. Jetzt reisen wir schon digital statt real und stürzen dabei den Tourismus in den Abgrund!
Und dann hatte ich eine sogenannte Out-of-Body-Experience. Vielleicht lag es an der Tafel Schokolade. Jedenfalls sah ich mich plötzlich vor dem Laptop sitzen, den Tourismus-Artikel in dem einen Tab, in etwa zwanzig weiteren Google Streetview, diverse Reiseblogs und natürlich Wikipedia. Ich erinnerte mich daran, dass ich mich noch vor fünf Minuten darüber aufgeregt habe, dass Wikipedia so wenig Bilder zu meinem gewünschten Reiseziel hat und dass Google Streetview so lange zum Laden braucht. Dann wurde mir schwindelig und es fiel mir wie Schuppen vor die Augen: Ich bin auch ein virtueller Tourist. Ich fühlte mich ertappt, wie jemand, der durch ein Schlüsselloch guckt und dem auf der anderen Seite ein Auge entgegenglotzt.
[size=150]Br…ille vorm Kopf[/size]
Das, was ich für Recherche hielt, ist in Wirklichkeit virtueller Tourismus im Anfangsstadium. Zum Glück, denn da ist er noch heilbar, wenn man denn will. Im fortgeschrittenen Stadium zwingt einen der Virus zum Kauf eines „Head Mounted Displays“. Nie gehört, aber beim Googlen von Symptomen der Krankheit stieß ich auf eine wachsende Branche. Technik-Dingsbumse, die man sich vor den Kopf schnallt wie ein Brett und die es einem ermöglichen, an beliebigen Orten das zu tun, wofür ich in meiner Jugend noch Grand Theft Auto brauchte: Sinnlos durch die Gegend fahren oder gehen, nur um zu gehen oder zu fahren. Wie ein Tourist halt. Ein Flaneur. Zur Zeit wird das alles weiterentwickelt, klar, denn Digitalisierung ist das große Ding der Zukunft. Da passt es, dass ich zur Zeit einen Roman über eine erwachende Maschinenintelligenz lese, die die Weltherrschaft übernimmt. Noch ist das alles harmlos, diese Digitaliseritis, aber wartet mal ab!
Virtueller Tourismus also. Warum ich davon bisher nichts gehört habe, liegt sicher daran, dass die Reisekonzerne Angst vor so etwas haben. Leute, die statt ins Reisebüro zu gehen lieber auf Balkonien sitzen, mit Klimawandelsonne auf dem Bauch und einer Brille vor der Nase, die ihnen vorgaukelt, am Strand von Malle zu liegen. Warum soll man noch viel Geld für Urlaub ausgeben, wenn die Mieten schon so teuer sind, dass man seine hart umkämpfte Wohnung schon aus Prinzip nur noch mit den Füßen voran verlassen will, um auch was für sein Geld bekommen zu haben? Warum sich mit Flughafenstreiks herumschlagen, mit den Verspätungen der Deutschen Bahn, nervenden Mit-Urlaubern? Digitaler Urlaub ist so einfach. Computer hochfahren, Bilder gucken, Berichte lesen, bei Youtube versacken. Wer mit Fantasie gesegnet ist, denkt sich die Atmosphäre dazu: Wellenrauschen, Zikadenklänge, den Geschmack von Limoncello am Ufer des Gardasees. Kostet nichts und bringt vor allem kein Stress.
[size=150]Der Wahnsinn unserer Eltern[/size]
Neulich fiel mir ein Reiseprospekt aus den 1980ern in die Hand. Mein Eltern sind damals an den Gardasee gefahren, nachdem sie über diesen Wisch ein Ferienhaus ausgesucht hatten. Als ich das sah, wich mir jegliche Farbe aus dem Gesicht, ich hätte schreien mögen: Seid ihr wahnsinnig gewesen? Mit einem kleinen Baby in so ein Abenteuer stürzen! Denn das Prospekt war nur zwei Seiten lang. Eine Liste mit Kurzbeschreibungen von Ferienhäusern, dazu ein schwarzweißes Foto für jedes Haus, das das Objekt von außen zeigte. So ein Flyer würde sich heute dem Vorwurf der mangelnden Seriösität aussetzen und schlimmste Absteigen versprechen. Alles, was nicht mindestens viereinhalb Sterne bei Bewertungsportalen, eine ausführliche Liste aller Ausstattungsmerkmale, von dreizinkigen Kuchengabeln bis vergoldetem Hundenapf, hat, dazu ein Foto von jedem Quadratmeter Tapete, wird mit Naserümpfen weggeklickt oder der Verbraucherzentrale als Fake-Anbieter gemeldet. Vorbei also die Zeit, in der man bereit war, ohne nähere Info über das per Post gebuchte Objekt und ohne Navi und Restaurant-App zur Reise aufzubrechen. Das bleibt heute Rucksacktouristen vorbehalten, wobei selbst die nicht ohne Ackerschnacker mit W-Lan-Funktion auskommen.
Aber war es nicht gut, das Abenteuer? Mit Kassetten im Autoradio und keinem Plan, was hinterm Brenner auf einen wartete?
Wir wollen nicht nur die Kontrolle über alles haben, sondern sind auch nicht mehr bereit, Erfahrungen zu machen, ohne vorher sicher sein zu können, dass sie gut sein wird. Wir googeln Reiseziele und sehen uns dort um, bevor wir auch nur daran denken, mal nach einem Hotel zu suchen und eine konkrete Reise anzuvisieren. Wir verbringen Tage damit, uns durch Seiten von Ferienhäusern zu pflügen, um schließlich in einem empirischen Verfahren eine Liste mit zehn zu erstellen, die infrage kommen könnten und die zur demokratischen Abstimmung bei allen Mitreisenden landet. Das ist toll, denn so minimieren wir das Ausfallrisiko. Nicht Zeit ist Geld, sondern Geld ist die Zeit, in der wir leben. Damals kostete ein Ferienhaus am Gardasee halt 400 Mark für zwei Wochen, da konnte man nichts sagen. Heute kostet ein Sofa in einer Ecke eines Wohnzimmers in Paris 400 Euro pro Woche. In der Nebensaison. Also ist man darauf angewiesen zu prüfen, wie man sein Geld anlegt. Ist folglich gar nicht der Mensch schuld daran, sich das Virtuelle Virus eingefangen zu haben, sondern das System? Der Verdrängungswettbewerb, der Wettlauf ums Geld? Ich tendiere fast zu sagen: Ja.
Bräuchten wir dieses Digi-Zeugs, wenn ein Hotelzimmer 15 Euro kosten würde und eine Bahnfahrt nach Frankreich 30? Wenn wir zwölf Wochen Urlaub im Jahr hätten statt vier? Vielleicht für die Vorfreude, aber nicht als Ersatz.
Ich habe gerade Zimmer im Val d’Oise reserviert. So.
Links zum virtuellen Reisen:
Moins de touristes étrangers dans les rues de Senlis
Forschung zum virtuellen Reisen an der Uni Linz
Info bei Intel
Zeitreisen in Paris: Timescope
TourMag: Le voyage virtuel, une vision de l’avenir ?