In seinem 2022 erschienenen Sachbuch will der marokkanische Akademiker Driss Ghali die französische Gesellschaft in ihrer heutigen Form sowie mit Bezug auf ihre Ge-schichte in den letzten 200 Jahren in wesentlichen Aspekten charakterisieren. Obwohl er etliche aktuelle politische Klischees aufgreift, spricht er Perspektiven an, über die man nachdenken sollte. Der Autor ist empört angesichts zahlreicher Fehlentwicklungen, die es seiner Meinung nach im heutigen Frankreich gibt: Amerikanisierung und Verdrängung der traditionellen französischen Kulur, unverantwortliches Ausmaß der Immigration, natürliche Unfähigkeit der Mehrheit der Immigranten zur Assimilation, Verfestigung von Parallelgesellschaften, Inkompetenz und Korruption der politischen und wirtschaftlichen Eliten, sozialer Abstieg von Unter- und Mittelschichten im Zeichen eines extremen Wirt-schaftsliberalismus, Unterwerfung der politischen Führer unter „Dik-tate” der EU, unzu-lässige Idealisierung der deutsch-französischen Freundschaft, exzessive Individualisie-rung in Verbindung mit Konformismus und politischer Abdankung des „Volks”, Ver-drängung positiver Aspekte der französischen Kolonialgeschichte. Auffällig ist der häufige Bezug auf das „Couple franco-allemand”, das für Driss Ghali nur eine verlogene Wie-dergabe des Verhältnisses zwischen Dienstmädchen und hartem Arbeitgeber ist. Auch die EU erscheint ihm nur als von Deutschen gesteuertes Zweckbündnis zur Durch-setzung ökonomischer und politischer Interessen Deutschlands. Immer wieder betont der Autor, dass solche „Fehlentwicklungen” aus der Sicht der Immigranten völlig un-verständlich seien. Der moderne Feminismus, die Gender- und LBQT-Debatte und die damit verbundene Woke-Kultur sind für Driss Ghali ex-zessive amerikanische Entwick-lungen, die sich in Frankreich festsetzen und zu einem katastrophalen Kulturverlust des einstmals christlich geprägten Landes führen. In seinem Schlusswort spricht der Autor 3 denkbare Reaktionen an: Auswanderung der traditionell kulturell verwurzelten Franzosen (Français de souche) zwecks Neubeginn im Ausland, Fortsetzung der Resignation oder Revolution in Frankreich. Angesichts dieser Ausführungen ist es nicht mehr überra-schend, dass der Autor sein Schlusskapitel mit einem denkwürdigen Satz beginnt: „Wenn Frankreich erwachen wird, wird die Welt erzittern.”
Ja, man kann über die Thesen des Autors nachdenken. Aber der durchgängige polemi-sche Grundton, das fehlende Literaturverzeichnis, die undifferenzierte Gedankenführung und die damit verbundenen fehlerhaften Analysen disqualifizieren den Autor als seriösen Sachbuchautor. Die Unverfrorenheit, mit der Driss Ghali alle positiven Aspekte der Euro-päischen Union und der deutsch-französischen Beziehungen ausklammert, die völlig fehlende konkrete Analyse der französischen Politik, die weitgehende Ignoranz mit Bezug auf das Phänomen der Klimaflüchtlinge und viele andere Differenzierungsschwächen sind für mich nicht nachvollziehbar. Ein Rezept zum Stopp der von ihm problematisierten Immigration kann Driss Ghali nicht präsentieren. Eine Erörterung echter Ansätze zur Lösung der aus seiner Sicht existierenden Probleme bietet der Autor mit diesem Buch nicht.