Wer hätte gedacht, dass es nur fünfzig Kilometer braucht, um das Moloch Paris vergessen zu lassen? Das ist die Entfernung, in der sich das gemütliche Städtchen Senlis befindet. Im Tal der Oise gelegen, blickt es auf Felder und Wälder und fühlt sich ganz wohl damit, großstadtnahe Provinz zu sein. Ich habe einen Abend dort verbracht und einen Spaziergang unternommen, den ich gerne teile.
Auf den Spuren von Séraphine
Es ist die Woche nach der großen Hitze, als die Gegend unter 40°C glühte. Man sieht es noch an den Straßenrändern, die nur in entfernter Vergangenheit noch grün gewesen sein können. Bäume sind verbrannt, selbst die Topfpflanzen vor dem Ibis-Hotel hängen. Ich wohne unter dem Dach, mit gefühlten fünftausend Grad, und blicke auf den Parkplatz mit den Ladestellen für Elektrofahrzeuge. Es sind fast nur Niederländer, die im Elektroluxus schwelgen und für die Dauer des Ladevorgangs ihr blondiertes Haupt (Frauen) und ihre Polohemden (Männer) in das nahe Grillrestaurant schleppen. Auch ich mache mich auf, um mir die Beine zu vertreten und dabei dieses Senlis zu sehen, das dem einen oder anderen Filmfreund aus ‚Séraphine‘ bekannt ist.
Séraphine de Senlis war um die Jahrhundertwende Haushälterin mit einer besonderen Gabe: Sie konnte malen und wurde von Wilhelm Uhde, einem Kunstsammler aus Berlin, entdeckt. Ihre Bilder strotzen vor Farben und Formen, sind dynamisch und wunderschön anzusehen. Leider starb sie in einer Nervenanstalt, möglicherweise eine Folge von Farbausdünstungen, denn ein Atelier hatte Séraphine nicht: Sie malte in ihrem Wohn- und Schlafraum. 2008 wurde ihr Leben mit Yolande Moreau in der Hauptrolle verfilmt. Natürlich in Senlis, das schon vielen Filmen als Kulisse diente. Das ist kein Wunder, denn immer wieder dient die Stadt Filmen als Kulisse, da ihre mittelalterliche Altstadt komplett erhalten ist.
Da wäre die gotische Kathedrale Notre-Dame (natürlich heißt sie so, wie auch sonst?), die nicht größer ist als eine Kirche. Man sieht ihren Turm schon von weitem. Ich gehe gerne in Kirchen, weil sie zeigen, zu welcher Baukunst der Mensch einst fähig war, in einer Zeit vor Beton- und Glaskonstruktionen und dem unästhetischen Form-follows-function. Senlis hat auch ein römisches Theater aus dem ersten Jahrhundert n.Chr., das heute ganz unscheinbar ist. Man versteht, warum es in Vergessenheit geriet und seine Ruine erst spät wieder ausgegraben als historisches Monument verstanden wurde.
Sommerstille
Ich bin fast ganz alleine in Senlis. Niemand sonst läuft mit Stadtplan und Socken in Sandalen durch die Gegend (kleiner Scherz. Keine Socken). Es erscheint an diesem Abend wie ein Wunder, dass es überhaupt ein Office de Tourisme im Ort gibt. Die Läden schließen früh und andere sind sowieso geschlossen, wie etwa der Buchladen: Betriebsferien vom 20. Juli bis 20. August. Hier zeigt sich die Zugehörigkeit von Senlis zum Großraum Paris: Zweifellos befindet sich der Buchhändler irgendwo am Meer und trifft dort den Eigentümer des Brillenladens und des Restaurants an der Ecke. Senlis ist ausgestorben und in diesem Zustand eine äußerst schöne Tote, mit ihren geschlossenen Sandsteinlidern. Nur die Autos fahren unaufhörlich durch die schmalen Gassen. Und weil schlimmer schließlich immer geht, freue ich mich, dass wenigstens dieser Ort von SUVs verschont bleibt: Sie würden schlicht nicht durch die engen Gassen passen.
Senlis putzt sich nicht heraus, um zu gefallen. Was verfällt, verfällt. Die Fassade des einen oder anderen Hauses hat zu meinen Lebzeiten keinen frischen Anstrich erlebt und so manche historische Sehenswürdigkeit versteckt sich hinter einer dunklen Gasse, sodass man sich im falschen Viertel glaubt. Umschlossen wird das ganze Gemisch von einem ebenfalls römischen Stadtwall, auf dem man teilweise schlendern kann, und dem idyllischen und dunklen Fluss Nonette, der hier kaum mehr als ein Bach ist. Erst wenn man nach seinem Spaziergang zurück in den Norden der Altstadt kehrt, hinter die Kathedrale, zeigt sich Senlis wieder herausgeputzt: Drei, vier kleine Gassen, mit Blumen geschmückt und von Efeu bewachsen sonnen sich im Abendlicht und atmen auf, als das letzte Auto des Feierabendverkehrs in einem Innenhof verschwindet und Senlis wieder sich selber und dem Sandstein gehört.
Später liege ich bei nur noch dreitausend Grad Celsius in meiner Ibis-Dachkammer, lausche dem Lüfter der Elektrotankstelle unter meinem Fenster und der Autobahn in Sichtweite und freue mich, dass es Orte gibt, die der Moderne widerstehen.
Links:
Französischer Wikipediartikel
Internetauftritt des Office de Tourisme von Senlis