Wie wird ein Mensch in unmenschlicher Umgebung? Zum Ungeheuer oder zum Menschen. Dieser Frage geht Alexis Jenni auf meisterhafte Art anhand seiner Protagonisten im Widerstand gegen die Nazis, im Indochinakrieg und im Algerienkrieg nach. Trotz aller Schrecken, die damit verbunden sind gleitet er nie ins voyeuristische ab. Ein grosses Kunstwerk.
Um “Die französische Kunst des Krieges” zu lesen, muss niemand Frankreich- oder Kriegsspezialist sein. Nach der Lektüre weiß der Leser / die Leserin allerdings sehr viel darüber. Alexis Jenni ist ein Abenteuerroman gelungen, der politisch ist, ohne dass Politiker darin auftreten, und soziologisch, ohne durch dazwischengeschobene Abhandlungen zu langweilen. Das Buch mit seinen 768 Seiten ist im positiven Sinn ein Schmöker.
Es treten darin zwei Erzähler auf. Der erste ist ein Drop-out, im heutigen Lyon lebend. Schon die Geschichte seines Herausfallens aus der Gesellschaft, des Verlustes von Arbeit, Frau und Wohnung (“Beuten des sozialen Kriegs”), wäre für sich genommen einen Roman wert; sie gibt den Ton des Buches vor: Farben, Formen, Klänge, Ekel, Blut und Witz.
Dieser Erzähler trifft in einem Bistro auf einen älteren Herrn namens Victorien Salagnon. In einer Rezension über dieses Buch wurde ich auf den französischen General Raoul Salan, der gegen die Nazideutschen kämpfte, außerdem in Indochina und Algerien, bis er schließlich putschte und dann Mitglied der Terrororganisation OAS wurde, aufmerksam. Hier hat sich ein Autor der Freiheit der Kunst bedient um aus den Versatzstücken der Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert seine zweite Hauptfigur zu kreieren. Die Romanfigur Salagnon jedenfalls, so stellt es sich heraus, war Widerstandskämpfer, dann Soldat in Indochina und schließlich ebenfalls in Algerien. Außerdem ist er Maler und Zeichner. Wer die Biografie des realen Generals Salan nachschlägt, stellt fest, dass er in Algerien tatsächlich einen Maler im Gefolge führte.
Salagnon, der schmale Senior, bringt dem jungen Erzähler das Malen bei, erzählt von seinen Kriegen und lässt das Wort “Kriegskunst” schillern. Darüber wird Salagnon selbst zum Haupterzähler des Buches.
Auf den ersten Seiten des Romans steht sinngemäß zu lesen, in Frankreich sei das Militär eine ins Unbewusste verdrängte Wirklichkeit, auch die Kolonialkriege seien unsichtbar geworden. Auf Algerien trifft dies meiner Meinung nach nicht zu. Der Indochinakrieg hingegen, ist in der Tat abwesend.
Die Geschichte endet nicht in Indochina oder Algerien. Sie geht im heutigen Lyon des Erzählers weiter, in den Ghettos. Dort wird der Kolonialkrieg mit anderen Mitteln fortgesetzt, so schildert es Jenni und geht der Frage nach, wieso um alles in der Welt das Zusammenleben in Frankreich nicht gelingen will. Wegen des Kolonialismus, wie er meint? Von einem Roman muss keine Analyse verlangt werden, es genügt, dass er diese Frage aufwirft.
Die Biographie des Autors ist ebenso interessant. Er ist Biologielehrer in Lyon, hat den Roman im Café geschrieben und dann unverlangt an einen Verlag geschickt. An den berühmtesten. Und siehe da, das Manuskript wurde angenommen, am Schluss erhielt er sogar den wichtigsten Literaturpreis Frankreichs, den Prix Goncourt.
In der deutschsprachigen Übersetzung:
Alexis Jenni – Die französische Kunst des Krieges
ISBN 9783630874029
Luchterhand Verlag
Im französischen Original:
Alexis Jenni – L’Art Francais de la Guerre
ISBN 978-2070134588
Gallimard Jeunesse