Wo liegt das Problem?
In Frankreich herrscht ein unglaublicher Ethnozentrismus. Darum haben sie in Paris nicht gemerkt, dass man etwas tun muss, wenn man sich behaupten will. Mit der Folge, dass heute die englische Sprache die Welt beherrscht – nicht die grossartige Sprache Shakespeares, sondern ein jämmerliches, primitives Yankee-Amerikanisch.
Paris ist also selber schuld?
Absolut, ja. Es gibt die OIF, die Organisation international de la Francophonie, die jetzt den Gipfel in Montreux veranstaltet. Die Organisation wäre stark genug, um die Werte der französischen Kultur in die Welt hinauszutragen. Doch stattdessen ist die OIF zur Befehlsempfängerin der französischen Aussenpolitik geworden. Das ist kein Wunder: Die meisten OIF-Mitglieder kommen aus Afrika und sind wirtschaftlich abhängig von Paris. Da wehrt sich keiner gegen die Vereinnahmung der OIF. Und von den Nichtafrikanern tut es auch niemand: Die Belgier sind mit sich selbst beschäftigt, im kanadischen Québec fehlt die Kraft, und Haiti hat andere Sorgen. Bleibt die Schweiz. Doch auch sie hat nichts getan.
Warum nicht?
Das hat mit dem Jurakonflikt zu tun, der die Schweiz Jahrzehnte lang im Griff hatte. Roland Béguelin, der brillante Hauptvertreter der Separatisten, mobilisierte im Kampf für die Kantonsgründung die Frankofonie. Das Vokabular der Jura-libre-Bewegung war dasjenige der Frankofonie. Da ging es um die Einheit der Frankofonen und um die Verteidigung der französischen Werte gegen das bürokratische, autoritäre Monster in Bern. Damit wurde über Generationen jede Initiative des Bundesstaats in Richtung Frankofonie verunmöglicht. Das hätte ja geheissen: Man macht gemeinsame Sache mit Béguelin. Und das kam überhaupt nicht infrage.
Immerhin findet nun der Gipfelin der Schweiz statt.
Ja, das ist das Verdienst von Micheline Calmy-Rey. Sie ist aufgestanden und hat gesagt: Wir brauchen die Frankofonie im Kampf gegen den amerikanischen Imperialismus. Natürlich hat es Calmy-Rey nicht so gesagt. Aber sie hat gehandelt. Sie hat mitgeholfen, dass TV 5, der Fernsehsender der OIF, unabhängig blieb. Heute ist sogar ein Schweizer Informationschef von TV 5: André Crettenand. Dazu hat Calmy-Rey den Kongress in die Schweiz geholt. Das ist grossartig. Ursprünglich hätte er in Madagaskar stattfinden sollen, doch dort wäre die Veranstaltung bis zum letzten Polizisten von Paris aus kontrolliert worden.
Zurück zum Hauptproblem: Alle reden englisch …
… nicht englisch, sondern primitiv-amerikanisch!
… sogar innerhalb der Schweiz. Wenn ein Genfer einen St. Galler trifft, reden sie oft englisch.
Das ist so, ja. Es ist ein Mythos, dass in der Schweiz verschiedene Kulturen miteinander leben. Sie leben nebeneinander. Das habe ich im Nationalrat gemerkt und auch bei meinen Studenten in Genf. Die kennen den Theaterplan von Paris auswendig; Lyon ist ihnen so vertraut wie der eigene Hosensack. Hingegen habe ich während der ganzen Zeit als Professor vielleicht einen oder zwei Genfer Studenten angetroffen, die schon mal in Appenzell waren.
Auch in die umgekehrte Richtung ist das Interesse beschränkt. Die Leidenschaft der Deutschschweizer für die Frankofonie ist limitiert.
Das hat historische Gründe. Der französische Einmarsch in die Schweiz war für manche, etwa für das Waadtland, eine Befreiung. Andernorts, etwa in der Zentralschweiz, gelten die Franzosen dagegen als marodierende Kolonisatoren. Dass die Franzosen ihre Werte Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts mit Waffengewalt in der Schweiz durchsetzten, haben manche bis heute nicht verdaut. Doch Tatsache ist: Ohne französisches Diktat, Helvetische Republik und Mediationsverfassung wäre 1848 kein Bundesstaat entstanden und gäbe es keine moderne Schweiz.
Was erhoffen Sie sich vom Gipfel in Montreux?
Hier wird sich zeigen, ob es möglich ist, die Negativentwicklung umzukehren.
Und wenn es nicht gelingt? Wenn die Frankofonie weiter erodiert?
Dann gewinnt der globalisierte Raubtierkapitalismus. Dieser konnte auch deshalb stark und mächtig werden, weil sich die Yankee-Primitivsprache durchgesetzt hat. Der Triumph dieser Sprache über die französische bedeutete, dass viel kritisches Bewusstsein und viele Widerstandswerte verloren gingen.
Die französische Sprache als Bollwerk gegen die Auswüchse des Kapitalismus? Sie übertreiben.
Das ist keine Übertreibung. Noch ein Beispiel, das die Bedeutung der Frankofonie zeigt: Wenn früher der französische Botschafter seine Kollegen aus dem frankofonen Afrika zusammenrief, um eine UNO-Abstimmung zu koordinieren, waren sofort alle zur Stelle. Heute kommt kein einziger mehr. Hingegen stehen alle parat, wenn der Generalsekretär der Konferenz der islamischen Staaten anruft. Es hat nichts mit Islamfeindlichkeit zu tun, wenn man diese Entwicklung hinterfragt. UNO-Entscheide sollen nicht aufgrund religiöser Kriterien, sondern auf Basis republikanischer Werte gefällt werden. Darum ist Montreux so wichtig: Hier entscheidet sich, ob es gelingt, die Werte der Aufklärung zu stärken.