Bergues. Der Weg ist noch recht weit von Cassel aus, sagt die Karte. Aber dadurch, dass man so weit schauen kann, dass das Wetter abwechslungsreich schlecht ist und dass das Land mich einlullt, geht es recht schnell. Ich muss an ein Lied denken, in dem es ums Autofahren geht. « Und wir fahren alle Straßen, diesen langen Weg nach Hause und wir kennen die Stellen, an denen Sachen geschahen. Wir kennen die Gesichter und wir kennen die Gegenstände und wir können spüren, wie sie die Form verlieren. » Ein trauriges Lied, aber der Rhythmus ist gut und es passt in meine Nordmelancholie-Phase. Der dritte Teil des Lieds geht dann nur noch so: « Fahr fahr fahr fahr fahr fahr fahr, fahr fahr fahr fahr fahr fahr fahr… » So fühle ich mich.
Was erwarte ich von Bergues? Ich denke an den bekannten Belfried, dieses massive Bauwerk, das anders ist als das in Lille. Ich denke an die zwei Sterne auf der Sehenswürdigkeiten-Skala im Michelin-Atlas, was genauso viele sind wie für Lille. Und ich denke an den Film. An DEN Film. Der außer Acht lässt, dass die Lokalsprache nicht Ch’ti ist, sondern Flämisch. Ich erwarte, dass es regnet und das tat es. Der größte Guss des Tages geht nieder, als wir aus dem Auto ausstiegen und ich meine Umhängetasche auf den nassen Bürgersteig nur wenige Meter von zerlaufenen Hundeexkrementen entfernt fallen lasse.
Das Dorf - oder ist es eine Stadt? Wenn Bergues eine Stadt ist, ist es die dörflichste Stadt, die ich je gesehen habe - ist menschenleer. Ein einziges Auto fährt durch eine enge Straße und es klingt genau wie zu Hause, das Zischen der Straße, wenn die Reifen das Wasser aufwerfen. Ich hasse es. Schnell stehen wir vor dem schönsten Haus in Bergues, nicht weit von der Fernseh-Post entfernt. Wenn ich erst meine Villa in Frankreich habe, werde ich die Fenster in genau dem Blau streichen.
Der Belfried ist beeindruckend und leider - wie immer - viel zu hoch, um ihn auf ein Bild zu bannen. Ich wusste nicht, dass er erst in den 1960ern wieder aufgebaut wurde. In einem Schaufenster eines geschlossenen Zeitungsladens ist alles ganz im Sinne von Boons Film dekoriert. Man kann dort die DVD kaufen, Stifte, Postkarten, diverse Kochbücher, ein Mini-Ortsschild. Alle Läden haben geschlossen. Alle Bars und alle Restaurants bis auf eine Crêpes-Kneipe und ein Imbiss, in dem Leute sitzen, Hähnchen mit Pommes essen und hinaus in den Regen gucken, wo ein kleines Grüppchen von Touristen über den kleinen … äh… großen Platz schlendert. In den Straßenrändern liegt noch Konfetti und ein großer Pappmachée-Bräutigam sitzt vor dem Rathaus und schaut sich den Parkplatz an.
Wir gehen am Rathaus vorbei, die Straße hoch. Wo auch immer sie hinführt. Es hat aufgehört zu regnen und wir falten den Schirm zusammen. Atmen durch. Schauen uns wie befreit um. Spüren dann wieder dicke Tropfen, die über das Gesicht laufen, in den Nacken und schließlich vom Wind gekühlt werden. Wir finden einen kleinen Park, kurz vor der Stadtmauer. Die Reste der Abtei St.Winoc. Zwei halbverfallene Türme sind dem Wind ausgesetzt, drumherum ein nackter Sandplatz. Ein großes Schild klärt über das Schicksal dieses Ortes auf. Während der Französischen Revolution wurden die Mönche, die Gründerväter der Festung, ermordet und die Abtei niedergebrannt. Der Platz davor, auf dem wir stehen, enthält die Asche dieser Menschen.
Es regnet immer noch, als wir die Stufen des kleinen Parks hinabsteigen und ein Stück die Stadtmauer entlang laufen wollen. Eine Familie picknickt im Regen, mit Decke und Proviantkorb auf der Wiese des Parks. Ich muss wieder an den Film denken und meine mich an ein Zitat erinnern zu können, dass es tatsächlich dort aber nicht gegeben hat. « Regnet es hier oft? » « Oft? Nein. Eigentlich immer. »
Ich stelle mir Bergues im Sommer ganz nett vor. Wie die zwei Sterne im Michelin-Atlas zustande gekommen sind, kann ich mir nicht ganz erklären. Es ist ein etwas bedrückender Ort und ich bilde mir ein, spüren zu können, dass die Stadt schrumpft und die Leute fortziehen. Von etwa 6.000 kurz nach der Revolution auf nunmehr nichtmal mehr 4.000.
Auf dem Weg zurück bekommen wir einen Vorgeschmack auf das, was noch mehrfach gelehrt bekommen werden auf unserer Tour durch den Norden. Vor dem Museum, ein großes, massives graues Haus, reizlos aber raffiniert, sehe ich Einschusslöcher und schwarze Backsteine.
Wir entschließen uns kurzfristig ans Meer zu fahren, nach Dünkirchen. Ich könnte mir keinen trostloseren Ort vorstellen. Eine Stadt, die ein Manifest gegen den Krieg ist, deren Hässlichkeit einen daran erinnert, wie sinnlos Kriege sind. Nicht immer erwächst aus Zerstörung etwas gutes Neues. Es gibt ein hübsches Rathaus, den Belfried und eine Kirche. Es gibt Betonklötze, Schmutz, Wind, Kälte, dafür aber viele junge Leute. Dünkirchen ist Universitätsstadt, die Klamottenläden und amerikanischen Fast-Food-Resturants sind voll. Ich fühle mich wie in einem Vorort von Liverpool.
Auch das Meer ist trostlos, kalt, grau, wild, der Wind eisig. Ein paar Menschen gehen am Strand und auf der Betonpromenade spazieren, ganz am Horizont im Norden sieht man Sanddünen, dahinter muss Belgien sein. Nach Süden Gravelines. Schlote, deren Qualm landeinwärts getrieben wird. Ich sammle schnell etwas Sand für meine Sammlung ein und wir fahren durch das Wirrwarr von immer gleich aussehenden Straßen über die Autobahn zurück in Richtung Lille. Gut so.
Dieses Bild erklärt sich selbst
Bergues Musée Municpal
Das Zentrum von Dunkerque. Und ja, wieder ein Foto mehr, wo ich durch das Bild renne… Zut alors.